Supply Chain Management
Macht und Vertrauen
Mit durchschnittlich 75 Prozent externer Wertschöpfung besteht in der deutschen Industrie eine hohe Abhängigkeit der Abnehmer von ihren Zulieferern. Kein Wunder also, dass gerade große Systemhersteller, Anlagen-bauer und OEMs nach immer mehr Kontrolle über ihre Supply Chain streben. Bleiben die Interessen der Zulieferer dabei auf der Strecke? Dieser Frage ging SCOPE-Redakteur Michael Stöcker nach. Momentaufnahme einer laufenden Debatte.
Wer Einblick erhält in die Systematik des Supply Chain Managements großer Systemhersteller, Anlagenbauer und OEMs, empfindet mitunter ein gewisses Mitleid für die Lage der Zulieferer. Gerade Einkaufsfürsten international ausgerichteter Unternehmen lassen mitunter mächtig die Muskeln spielen und wedeln mit akribisch ausgetüftelten Kennzahlentabellen und Watchlists, die jeden Lieferanten bis ins kleinste Detail bewerten, benoten, be- und verurteilen. Mit zweifelsfrei „besten“ Absichten wird eine lückenlose 360-Grad-Sicht auf die Wertschöpfungskette(n) angestrebt. Wo immer möglich sollen dabei die eigenen Risiken minimiert und die Kapazitäten der Lieferanten maximal ausgeschöpft werden. Arme Zulieferer.
Arme Zulieferer? Von wegen! Wer meint, die Zulieferer sähen sich hier als Underdogs und der Situation mehr oder weniger ausgeliefert, liegt falsch. Zumindest ist eine differenziertere Sichtweise angebracht. Firmenchef Klaus Findling vom gleichnamigen Wälzlager-Lieferanten etwa unterscheidet „verschiedene Motivationen“ der Kunden: „Die einen suchen die Nähe zu den Lieferanten, um effizientere Prozesse und individuellere Lösungen bei ihnen einkaufen zu können. Hier setzt man voraus, dass der Lieferant konkrete Kompetenzen hat, die man nutzen, aber nicht adaptieren will. Die anderen Kunden suchen nach `Effizienzpotential´ und sehen sich als Berater der Zulieferer, damit diese effizienter produzieren und die Produkte günstiger eingekauft werden können“. Am liebsten sind Findling dabei jene Kunden, „die unsere Intelligenz und Flexibilität nutzen wollen, damit wir gemeinsam effizientere Prozesse aber auch individuelle Dienstleistungen implementieren können“.
Auch Ralf Jedrysiak, der bei Feinguss Blank in Riedlingen das Supply Chain Management betreut, fokussiert zunächst das gemeinsame Wohl: „Lieferanten und Kunden profitieren von einer offenen Sicht auf die Wertschöpfungskette“. Den größten Vorteil sieht er dabei in einer optimierten Planungsgrundlage entlang der Supply Chain. „Durch die verbesserte Fertigungsplanung ist es möglich, Verschwendung wie zum Beispiel hohen Verwaltungsaufwand und zu große Materialeinkäufe auch unter Berücksichtigung des im Material gebundenen Kapitals zu reduzieren“, sagt er.
Die aktuellen Trends im Blick verweist Jedrysiak darauf, dass sich die Kunden „gezielt Systemlieferanten aufbauen, mit denen sich eine langfristige Zusammenarbeit auszahlt, um überhaupt das Konzept des Supply Chain Managements richtig umsetzen zu können.“ Daraus ergebe sich dann eine Win-Win-Situation: „Lieferanten können sich auf diese Weise langfristig Kunden sichern und die Kunden profitieren von größerer Versorgungssicherheit.“ Positive Ansätze erkennt auch Lothar Winkel, Vertriebsleiter des Familienunternehmens MBO Oßwald: „Immer kürzere Produkteinführungszeiten, kurze Produktlebenszyklen und starker internationaler Wettbewerb zwingen die Hersteller schneller und effizienter zu wirtschaften. Als Zulieferer mechanischer Verbindungselemente optimieren wir gemeinsam mit unseren Partnern die komplette Lieferkette. Sie wird auch bei der Entwicklung kundenspezifischer Sonderlösungen berücksichtigt.“
Das Verständnis der Zulieferer für die SCM-Ambitionen ihrer Kunden hat allerdings auch Grenzen. „Zusammenfassend überwiegen die Vorteile des Supply Chain Managements. Aber man darf nicht außer Acht lassen, dass die Lieferanten den Kunden weitreichenden Einblick in ihr Unternehmen gewähren, wobei Themen wie der Verlust von Wettbewerbsvorteilen und der Know-How-Schutz beachtet werden müssen“, betont Ralf Jedrysiak. Durchaus stellvertretend für viele Zulieferer bringt es Rolf Marwede, Segmentleiter Polyurethan-Riemen bei der Contitech Power Transmission Group, auf den Punkt: „Wir gehen darauf ein, solange eine vertrauensvolle Geschäftsbeziehung besteht und wir sicher sind, dass unser Know-how nicht an Wettbewerber abfließt.“
Marwede spricht damit einen Aspekt an, der bei vielen Zulieferern ganz oben auf der Wunschliste steht, wenn es um das Geben und Nehmen im Supply Chain Management geht: Gegenseitiges Vertrauen! Für geradezu essenziell wichtig zur Realisierung erfolgreicher SCM-Partnerschaften hält es Eckart Seitter, Geschäftsführer Vertrieb und Marketing des süddeutschen Leistungselektronik-Herstellers Vincotech. Er konkretisiert: „Die Partnerschaft muss von beiderseitigem Vertrauen geprägt sein. Dazu gehört es für beide Seiten, Versprechen einzuhalten, tatsächliche Interessen offen zu legen, realistische Zusagen zu machen sowie seriöse Aussagen zu treffen und Abweichungen und Probleme schnell und offen mitzuteilen.“
Gerade daran mangelt es aber in der Praxis noch vielerorts – was oft die Ursache teurer Reibungsverluste, Schnittstellenprobleme und Missverständnisse in der Supply Chain ist. „Die Zusammenarbeit könnte in einigen Punkten verbessert werden, zum Beispiel wenn es bei Just-in-Time-Lieferungen darum geht, einen verlässlichen Forecast zu liefern“, meint etwa Rolf Marwede von Contitech. Um die Risiken in der Supply Chain so gering wie möglich zu halten, ist für Vertriebsleiter Lothar Winkel von MBO Oßwald vor allem eine „gute Vorbereitung essenziell. Um erst gar keine Schnittstellenprobleme aufkommen zu lassen, ist ein gemeinsamer Lösungsansatz zu wählen, der nur im Dialog stattfinden kann. Unsere Aufgabe ist es hier proaktiv auf die Kunden zuzugehen, um zusammen das Optimum abzustimmen und umzusetzen“.
Keineswegs selbstverständlich ist dabei ein Zusammenhang, den Ralf Jedrysiak von Feinguss Blank erwähnt: „Um die Bedarfsdeckung bestmöglich an die tatsächlichen Kundenbedürfnisse anzupassen, müssen diese Bedürfnisse bekannt sein“. Um das sicherzustellen, müsse sich auch der Kunde auf neue Gegebenheiten einstellen, betont der SCM-Manager und erläutert: „In einer funktionierenden Supply Chain wird beispielsweise oft just-in-time an die Produktionskette geliefert. Mit diesem Konzept ist ein enormer Planungsaufwand nicht nur beim Lieferanten, sondern auch beim Kunden verbunden. Daher ist es nachvollziehbar, dass in der Entwicklungsphase auch Probleme auf Kundenseite auftreten können. Neben der reinen Bringschuld sollten jedoch Kollaboration und Kooperation intensiviert werden, was sowohl Kunden- als auch Lieferanten enger in die Verantwortung einbezieht.“
Gemeinsamer Dialog, Kooperation, offener Informationsaustausch – da hat wohl jeder Zulieferer seine eigene Geschichte. Klaus Findling erinnert sich an dieser Stelle an seine Erfahrungen aus dem Krisenjahr 2009: „Als der Abruf von Waren aus bestehenden Rahmenverträgen eingebrochen ist, haben wir alle Kunde mit Rahmenverträgen angeschrieben und baten um eine Einschätzung der Absatzlage, damit wir unsere Beschaffungsaktivitäten auf aktuelle Zahlen ausrichten konnten. Wir haben Rückantwort nur in homöopathischen Dosen erhalten. Es war uns unmöglich, eine Planung oder Abschätzung zu machen.“ Schnee von gestern? Keineswegs! „Das sieht heute kaum anders aus“, berichtet der Firmenchef und nennt ein Beispiel: „Was Produktabkündigungen oder Zeichnungsänderungen betrifft, werden die Zulieferer meist vor vollendete Tatsachen gestellt – nur weil der Einkauf beim Kunden selbst nicht weiß, was in der Entwicklung in der Pipeline steckt.“ Als Konsequenz daraus erstellt Findling inzwischen intern eine eigene „Bedarfsplanung“ für den Kunden und informiert seinen Vertrieb proaktiv über Abweichungen. „Wir sprechen den Kunden selbst an und warten nicht darauf, dass er sich rührt. Das aber erhöht unsere internen Prozesskosten – was der Kunde ja eigentlich vermeiden möchte“, bemerkt der Wälzlager-Spezialist.
An dieser Stelle jedoch eine hitzige Holschuld-Bringschuld-Diskussion zu vertiefen, erweist sich erfahrungsgemäß für keine Seite als Wellness-Programm. Erfolg versprechender ist es, wenn sich Abnehmer und Zulieferer auf gleicher Augenhöhe begegnen und beide ihre SCM-Hausaufgaben machen. Ein bittere Pille für manchen Einkäufer dürfte in diesem Zusammenhang eine pikante Entdeckung sein, die Professor Robert Dust von der Hochschule Heilbronn – er gilt als SCM-Experte – in einer Forschungsarbeit zum Risikomanagement in der Supply Chain machte. Dort ist nämlich zu lesen, dass sich „ein Drittel der Risiken in der Zusammenarbeit nur durch Maßnahmen beim Abnehmer nachhaltig abstellen lassen“.
Offen zum Ausbruch kommen viele Konflikte freilich erst, wenn erkennbar wird, dass ein – eventuell global agierender – Hersteller durch Implementierung seiner SCM-Strukturen einseitig versucht, sein eigenes Risiko zu minimieren und darauf drängt, immer mehr Pflichten, immer mehr Verantwortung und damit auch immer mehr Kosten auf die Schultern des Lieferanten abzuwälzen. Obgleich viele Zulieferer hier inzwischen großes Entgegenkommen zeigen, ist die Schmerzgrenze meist schnell erreicht. „Mehr Leistung, Service und Risiko auf Seiten des Zulieferers sind in Ordnung, allerdings nur mit der entsprechenden Kostendeckung. Das heißt, dass der Kunde für den empfangenen Mehrwert bezahlt“, stellt Rolf Marwede von Contitech klar. Und Klaus Findling weiß, dass sich die Kunden „meist wundern, dass man eine Entlohnung dafür fordert, wenn man sein Risikomanagement auf die individuellen Anforderungen des Kunden erweitert“. Für den Firmenchef liegt die Schmerzgrenze da, wo der Kunde Sicherheit wünscht, selbst aber keine Lösung hat. Also etwa bei Risiken der höheren Gewalt wie Streik, politischen Veränderungen, gesetzlichen Bestimmungen oder Transportverlust. „Viele dieser Risiken können nur durch gemeinsame Festlegung der benötigten Versorgungssicherheit gelöst werden, was Finanzierungskosten verursacht. Je mehr Individualität, desto anspruchsvoller muss das Risikomanagement sein. Darüber müssen sich beide Partner bewusst sein“, sagt Findling.
„Natürlich erreichen wir dann eine gewisse Schmerzgrenze, wenn Kunden versuchen, ausschließlich ihre eigenen Vorgaben zu implementieren. Schließlich ist es unsere tägliche Herausforderung, solche Themenstellungen mit dem entsprechenden Know-How zu meistern, so dass für alle Beteiligten ein optimales Ergebnis erzielt werden kann“, sagt Ralf Jedrysiak, der SCM-Manager von Feinguss Blank. Er meint: „Um eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Lieferanten und Kunde zu gewährleisten, können Pflichten nicht nur auf die Lieferanten übertragen werden.“ Seiner Ansicht nach ist es „die richtige Mischung aus eigenverantwortlichem Handeln und Übertragung von Verantwortung auf die Lieferanten, die den größten Erfolg bringt“.
Mit welchen Argumenten aber kann ein Zulieferer heute in diesem Macht- und Interessen-Poker bestehen? Eckart Seitter von Vincotech berichtet, dass man in solchen Fällen zunächst versuche, gemeinsam und ergebnisoffen mit dem Kunden zu klären, ob mit der Verlagerung Prozesskosten und -risiken optimiert werden können oder ob es sich nur um eine Verantwortungsverschiebung handelt. „In einem zweiten Schritt“, so der Geschäftsführer, „bewerten wir Kosten und Risiken und diskutieren das Ergebnis mit dem Kunden. Unsere Erfahrung zeigt, dass wir danach schon wesentlich näher an einer Win-Win Lösung sind. Allerdings gilt auch hier die 80:20-Regel, und es gibt Fälle, in denen Kunden über ein mögliches Machtpotential die Abwälzung von Kosten und Risiken strikt durchsetzen wollen. Hier behalten wir es uns vor, die Forderungen mit sachlichen Argumenten abzulehnen.“
Eifrige Berater empfehlen den Zulieferern in diesem Zusammenhang häufig auch, die TCO-Sichtweise als angeblich starkes Argument ins Feld zu führen. Unsere Recherchen dazu ergaben allerdings, dass das in der Praxis – obgleich ebenso ganzheitlich angelegt wie das Supply Chain Management – eher eine stumpfe Waffe ist, die kaum dazu taugt die Position der Zulieferer zu stärken. „Das Thema TCO spielt für unsere Kunden praktisch keine Rolle und ist daher für unser Geschäft nicht relevant“, sagt beispielsweise Rolf Marwede von Contitech. Ralf Jedrysiak von Feinguss Blank berichtet zwar einerseits, dass man diesen Ansatz in den Gesprächen „teilweise auch mit Erfolg“ nutze, bedauert andererseits aber, dass „die TCO-Betrachtung leider oftmals nicht angewendet wird“. Als Ursache dafür sieht er „falsche Anreize in den Organisationen und damit das Fehlen ganzheitlicher Ansätze über Abteilungs- und Funktionsgrenzen hinweg“.
Tief blicken lässt an dieser Stelle ein Statement von Wälzlager-Zulieferer Klaus Findling, bei dem zwischen den Zeilen viel Praxiserfahrung mitschwingt: „Selten haben wir Einfluss auf die Kosten treibenden TCO-Faktoren unserer Kunden. Ein Kunde möchte am liebsten `generell frei Haus´-Liefervereinbarungen, damit er die Kosten in seiner Gesamtkostenkalkulation nicht berücksichtigen muss“. Genau das aber, so der Firmenchef, stelle die TCO-Betrachtung letztlich auf den Kopf: „Die Kosten eliminieren sich ja dadurch nicht im SCM, sondern werden nur verlagert, und in der Regel erhöht.“ Als Beispiel dafür nennt er die Einhaltung der Liefertermine: „Immer weniger Kunden erlauben uns, Bestellungen zu Sammellieferungen zusammen zu fassen. Meist müssen wir unsere Auslieferungen -2 bis +1 Tage um den gewünschten Termin herum planen. Das bedeutet, dass wir im schlechtesten Fall zwei Mal in der Woche liefern müssen. Was ist daran effizient im Sinne von TCO – insbesondere in Zeiten niedriger Zinsen?“
Unbestritten mag man der Theorie des Supply Chain Management viele positive Aspekte abgewinnen. In der täglichen Praxis aber – auch das sollte dieser Beitrag aus der Sicht der Zulieferer zeigen – finden sich die Player immer wieder aufs Neue in mehr oder minder erfreulichen Lern- und Findungsprozessen. Wie der aktuelle Status Quo aussieht, beschreibt vielleicht Klaus Findling am besten, wenn er sagt: „Wir müssen in der Kette des SCM die Anforderungen der Kunden adaptieren und das Beste daraus machen – gerade wenn die Kunden unserer Argumentation nicht folgen.“
Michael Stöcker