Werkstoffe
Höchste Präzision für "Nord Stream"
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Die Europipe Gruppe mit Sitz der Zentrale in Mülheim an der Ruhr sowie Produktionsstandorten in Frankreich, den USA und Brasilien beschäftigt insgesamt ca. 1.700 Mitarbeiter. Kerngeschäft des Unternehmens ist die Produktion längsnaht- und spiralnahtgeschweißter Stahlrohre für die Öl- und Gasindustrie. "Unsere Rohre halten höchsten Temperaturen in der Wüste ebenso stand wie niedrigsten Temperaturen im ewigen Eis oder dem extremen Druck der Tiefsee", erklärt Dr. Andreas Liessem, Werksleiter im Mülheimer Großrohrwerk. Aktuell arbeitet das Unternehmen an einem Großauftrag für die Erdgasindustrie: Europipe produziert die Hauptmenge längsnahtgeschweißter Großrohre für die Nord-Stream-Pipeline von Wyborg (Russland) nach Greifswald.
Neue Dimensionen und neue Herausforderungen
Die Nord-Stream-Pipeline ist das derzeit größte und komplexeste Offshore-Projekt weltweit. Sie besteht aus zwei Rohrleitungen von jeweils 1.220 Kilometer Länge und wird nach ihrer Fertigstellung jährlich über 55 Milliarden Kubikmeter Erdgas von Russland ins europäische Ferngasnetz einspeisen. Europipe liefert an Nord Stream im Rahmen von zwei Bauphasen insgesamt rund 153.500 Rohre - das entspricht 1.838 Kilometern mit einem Gesamtgewicht von rund 1,6 Millionen Tonnen. "Das ist der größte Auftrag, den Europipe jemals realisiert hat", erklärt Liessem. Für dieses Projekt fertigt das Unternehmen monatlich ca. 4.000 Rohre mit einem Außendurchmesser von 48 Zoll (1.220 Millimeter) und mit Wanddicken zwischen 26,8 Millimetern und 34,6 Millimetern nach dem UOE-Verfahren (U-Formen, O-Formen, Expandieren). Dabei wird ein hochfestes Blech, das gleichzeitig höchste Zähigkeiten aufweist, auf einer U-Presse zu einem "U" geformt. Danach erfolgt auf der O-Presse mit sich schließenden Gesenken die Umformung zu einem Schlitzrohr. Anschließend werden die Längskanten des Schlitzrohrs verschweißt. Die endgültige, nahezu kreisrunde Form wird durch einen Expander herbeigeführt. Das zwölf Meter lange längsnahtgeschweißte Rohr erhält Beschichtungen - innen zur Minderung der Reibung zwischen Gas und Rohrwand sowie außen zum Korrosionsschutz. Nach der zusätzlichen Betonummantelung sind die Rohre bereit zur Verlegung. Mittels Versorgungsschiffen werden die Rohre zum Verlegeschiff in der Ostsee transportiert, wo sie zu einem Rohrstrang verschweißt und in Wassertiefen von bis zu 210 Metern verlegt werden. Sie müssen einem Betriebsdruck von bis zu 220 Bar standhalten - eine Beanspruchung, die spezielle Anforderungen an das eingesetzte Material und die Rohrherstellung stellt.
Erfahrung zahlt sich aus
"Unsere O-Presse wirkt mit einer Kraft von bis zu 60.000 Tonnen - vergleichbar mit dem Gewicht von 1.500 beladenen LKWs - auf die zwölf Meter langen Bleche ein", beschreibt Jascha Alexander Jacobs, Leiter Einkauf bei Europipe. Die O-Presse wird bestückt mit sechs Pressengesenken, bestehend aus jeweils einem Ober- und einem Unterteil. Die Pressengesenke für den Nord-Stream-Auftrag lieferte die Schmolz + Bickenbach Guss Gruppe. Vor allem zu Beginn des Umformungsprozesses vom "U" - zum Schlitzrohr sind die Pressengesenke starken mechanischen Beanspruchungen ausgesetzt - denn die Kanten des zu einem "U" geformten Blechs sind relativ scharf. "Für uns besteht die Herausforderung darin, Europipe für diesen Fertigungsschritt Gesenke aus einem Werkstoff zur Verfügung zu stellen, der eine hohe Langlebigkeit und Oberflächenhärte mit einer enormen Abriebfestigkeit verbindet", so Götz Axel Weckes, Vertriebsverantwortlicher bei der Schmolz + Bickenbach Guss Gruppe. Bewährt haben sich Pressengesenke aus Sphäroguss, die im Sandgussverfahren hergestellt werden. Der Einsatz dieses Werkstoffes stellt für die Guss Gruppe eine Ausnahme dar, denn seit den 1980er Jahren ist man auf Edelstahlguss spezialisiert. Deshalb werden nur noch anspruchsvolle Großteile in Sphäroguss realisiert.
Besonders hohe Qualitätsanforderungen
Im Laufe der über 30-jährigen Zusammenarbeit forcierten Europipe und die Guss Gruppe - gemäß den wachsenden Anforderungen - einen kontinuierlichen partnerschaftlichen Entwicklungsprozess. So wurde die Form der Pressengesenke immer weiter angepasst und damit die Geometrie optimiert. "Wir brauchen einen Partner, dem wir uneingeschränkt vertrauen und der auch bei anspruchsvollsten Aufgaben - wie der Nord-Stream-Pipeline - zuverlässig an unserer Seite steht", unterstreicht Jacobs. Gerade bei diesem Projekt sind die Qualitätsanforderungen besonders hoch - die Abweichung von der exakt runden Form darf höchstens fünf Millimeter betragen. Diese strengen Vorgaben werden während des gesamten Produktionsprozesses durch Spezialisten von EUuropipe und Nord Stream sowie durch unabhängige Experten überprüft. Für die Guss Gruppe gilt dies in gleichem Maße: So werden die bis zu 13 Tonnen schweren und drei Meter langen Ober- und Unterteile nach der Vorbearbeitung und dem Vergüten einer intensiven Prüfung im Werk unterzogen. Dabei untersucht ein Abnehmer von Europipe die Bauteile umfassend auf Risse oder andere Fehlstellen. Stimmt dann auch der vorgegebene Härtegrad, werden die Gussteile zur abschließenden mechanischen Bearbeitung freigegeben. Die mechanische Vor- und Fertigbearbeitung nimmt mit rund neun Wochen pro Paar gut die Hälfte der gesamten Produktionszeit in Anspruch. Fertig bearbeitet werden das Ober- und Unterteil des Pressengesenks in zusammengebautem Zustand. Die Guss Gruppe hat für diesen Bearbeitungsschritt ein eigenes Werkzeug entwickelt. Mit einer Art Propeller, der mit Schneidplatten bestückt ist, bearbeitet der Zerspanungsexperte die Innenflächen und die spätere Arbeitsfläche des Pressengesenks punktgenau. Trotz der enormen Dimensionen wird dadurch eine hohe Genauigkeit gewährleistet - die zugelassene Toleranz liegt bei fünfzehnteln über eine Länge von drei Metern. Bei größeren Abweichungen besteht sonst das Risiko, dass das Rohr ungleichmäßig eingeformt wird. Der Gussexperte produziert für Europipe Pressengesenke für Rohre der verschiedensten Größen - für das Nord-Stream-Projekt liefert das Unternehmen Pressengesenke für die Herstellung von 48-Zoll-Rohren. Jacobs resümiert: "Bei Schmolz + Bickenbach Guss stimmt für uns das Gesamtpaket - eine reibungslose und persönliche Kommunikation, verbunden mit einer hohen technischen Kompetenz, einer großen Kapazität und nicht zuletzt mit einer für uns vorteilhaften örtlichen Nähe." lg