Forschung

Nachgiebigkeit ist Einstellungssache

Das Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW) der Universität Stuttgart hat für die Handhabung empfindlicher Werkstücke einen Roboterfinger mit adaptiver Nachgiebigkeit auf Basis von Formgedächtnislegierungen entwickelt.

Konzept von Roboterfingern mit adaptiv einstellbarer Steifigkeit. © Uni Stuttgart

Industrieroboter werden im industriellen Umfeld meist für Handhabungs- und Positionieraufgaben eingesetzt. Ihre Präzision verdanken Roboter dabei ihrem steifen mechanischen Aufbau, der dafür sorgt, dass die von den Antrieben eingestellten Gelenkwinkel genau zu der in der Steuerung berechneten Endeffektorposition führen. Allerdings bringt eine möglichst steife Mechanik auch Nachteile mit sich. Sie ist insbesondere für Aufgaben nachteilig, die eine genaue Kontrolle der auftretenden Handhabungskräfte erfordern, beispielsweise bei der Manipulation empfindlicher Werkstücke.

Die steife Mechanik von Industrierobotern sorgt hierbei für eine hohe Bandbreite in der Kraftübertragung, wodurch hohe Anregungsfrequenzen von der Robotermechanik direkt auf das gehandhabte Objekt übertragen werden. Außerdem werden impulsförmige Kräfte, die extern auf das manipulierte Objekt wirken, nicht ausreichend kompensiert. Anschaulich gesprochen: ein rohes Ei beschädigungsfrei und in kurzer Zeit mit einem steifen Roboter von einem schnell bewegten Förderband zu greifen und an einer anderen Position auf einem starren Untergrund definiert abzulegen ist eine enorme regelungstechnische Herausforderung.

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Eine verbreitete Lösungsstrategie ist es daher, gezielt Nachgiebigkeiten in den Handhabungsprozess einzubringen, die die Bandbreite der Kraftübertragung senken und hohe Anregungsfrequenzen dämpfen. Im Beispiel würde dies bedeuten, dämpfende Materialien wie Gummi zwischen der Robotermechanik und dem Ei einzubringen. Allerdings haben diese eingebrachten Nachgiebigkeiten wiederum Ungenauigkeiten zur Folge, da auf das Handhabungsobjekt wirkende Kräfte die nachgiebigen Materialien verformen und somit dessen Position verändern. Im genannten Beispiel entsprechen solche Kräfte den Trägheitskräften, die während der Roboterbewegung auf das Ei wirken und die umso größer werden, je schneller der Roboter beschleunigt.

Eine steif ausgelegte Greifermechanik limitiert daher die maximal mögliche Beschleunigung, da die auftretenden Beschleunigungskräfte nicht ausreichend gedämpft werden und letztendlich zu groß für die empfindliche Oberfläche des Eis werden. Auf der anderen Seite führt eine zu große Nachgiebigkeit bereits bei geringen Kräften zu starken Positionsabweichungen, sodass über die genaue Position des manipulierten Objektes keine verlässliche Aussage mehr getroffen werden kann. Es muss daher stets ein Kompromiss zwischen Positionsgenauigkeit und Dynamik gefunden werden, der durch die Nachgiebigkeit des Systems aktiv beeinflusst werden kann.

Die optimale Lösung im genannten Beispiel wäre es, die Nachgiebigkeit zwischen Robotermechanik und Handhabungsobjekt während der Manipulation anzupassen. Dies ermöglicht es, Beschleunigungs- und Verzögerungskräfte während des Anfahrens und Abbremsens des Manipulators durch eine hohe Nachgiebigkeit zu reduzieren, wohingegen beim Ablegen das Ausschwingen des Manipulationsobjektes durch eine erhöhte Steifigkeit minimiert werden kann.

Das Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW) der Universität Stuttgart hat hier einen Lösungsansatz entwickelt in Form eines Roboterfingers mit adaptiver Nachgiebigkeit auf Basis von Formgedächtnislegierungen. Um während der Handhabung bei Bedarf das manipulierte Objekt von der steifen Robotermechanik entkoppeln zu können, kommen sogenannte Formgedächtnislegierungen (FGL) zum Einsatz. Diese sind aufgrund ihrer charakteristischen Eigenschaften für den Entwurf eines Greifers mit veränderlicher Steifigkeit geeignet. Der am ISW entwickelte Entwurf basiert auf Nickel-Titan-Legierungen, sogenanntem NiTiNol.

Der Wirkmechanismus dieser Formgedächtnislegierung geht auf eine temperatur- und spannungsinduzierte Umwandlung der Kristallstruktur des Materials zurück. Hierbei wandelt sich monoklines oder orthorhombisch verzerrter Martensit zu dichter gepacktem kubisch-raumzentriertem Austenit. Die mit der Umwandlung einhergehende Volumenänderung des Materials führt zu einer Kontraktion bei Erwärmung, die als Stellbewegung für den Roboterfinger verwendet werden kann. Die Rücktransformation in Folge einer Abkühlung des Gefüges kann dementsprechend für die Gegenbewegung genutzt werden.

Vereinfacht kann davon ausgegangen werden, dass das Verhältnis zwischen vorliegendem Martensit und Austenit die mechanischen Eigenschaften der Legierung bestimmt. Dieses Verhältnis kann in Abhängigkeit der äußeren Lasten durch eine Änderung der Temperatur verändert werden. Der hierzu erforderliche Wärmeeintrag kann dabei in einfacher Weise durch das Stromwärmegesetz realisiert werden, indem die Legierung mit elektrischem Strom erhitzt wird. Somit lässt sich die mechanische Steifigkeit der Legierung durch die eingestellte elektrische Spannung steuern.

Ein weiterer Vorteil von Formgedächtnislegierungen ist ihr ausgezeichnetes Kraft-Gewicht-Verhältnis. In Bezug auf die Greifertechnik bedeutet dies, dass vergleichbare Greifkräfte mit wesentlich weniger Gewicht am Endeffektor realisiert werden können. Für das entwickelte Konzept ist es nicht erforderlich, schwere Motoren am Endeffektor des Roboters anzubringen, sondern die gesamte Konstruktion kann mit Leichtbaumaterialien realisiert werden. Dies trägt zur Verbesserung der Dynamik von Industrierobotern bei, da am Endeffektor angreifende Trägheitskräfte, die während der Bewegung auf alle Roboterachsen wirken und über die serielle Kinematik noch verstärkt werden, signifikant abnehmen. Die somit freiwerdende Lastkapazität des Roboters kann somit zur Steigerung der Dynamik oder zur Aufnahme von zusätzlichen Nutzlasten genutzt werden.

Bei dem am ISW entworfenen Konzept handelt es sich um einen Prototyp, wobei die Erforschung der Eigenschaften von formgedächtnisbasierten Greifmechanismen sowie die Übertragung des Konzepts in die Praxis im Vordergrund des Entwurfs steht. Mögliche Anwendungsbereiche sind insbesondere bei der Handhabung empfindlicher Werkstücke zu suchen. Beispielsweise beim Umgang mit spröden Materialien wie Keramik, Glas oder Werkstücken mit empfindlichen Oberflächen. M. Wnuk, T. Wenger, Dr. A. Lechler, Prof. Dr. A. Verl/as

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