Digitales Typenschild
Digitalisierung im Maschinenbau
Dass der Maschinenbau der Zukunft digital ist und sein muss, daran zweifelt heute kaum jemand mehr. Doch auf dem Weg dorthin lauern Stolpersteine, denen es auszuweichen gilt. Sonst droht Gefahr, dass die Digitalisierungsbestrebungen nicht zur smarten Fabrik der Zukunft führen, sondern zur Dauerbaustelle werden. Christian Heinrich zeigt, wie sich die vier ärgsten Klippen umschiffen lassen.
Keine Maschinen mehr verkaufen, sondern Produktionskapazitäten vermieten – mit den digitalen Geschäftsmodellen der Zukunft wird der klassische Maschinenbauer zum Full-Service-Anbieter für seine Kunden. Doch auch im kleineren Maßstab sorgen digitale Prozesse in den Werkshallen für effizientere Abläufe und höhere Automatisierungsgrade, die in Zeiten wirtschaftlicher Turbulenzen zum entscheidenden Faktor werden können, um sich im Wettbewerb zu behaupten. Diese Vorteile lassen sich jedoch nur dann erzielen, wenn die Digitalisierung mit Plan und Weitsicht angegangen wird. Dazu gehört auch, kritisch nach möglichen Problemen und Risiken Ausschau zu halten – allen voran den klassischen Stolpersteinen, die immer wieder bei Digitalisierungsprojekten im Maschinenbau auftreten.
Der Use-Case als schmückendes Beiwerk
Der frühe Vogel fängt den Wurm und viel hilft viel: Wer so denkt, verfügt vielleicht schon heute über erste Datenreservoirs, die nur darauf warten, genutzt und ausgewertet zu werden. Doch dann folgt die Ernüchterung: Die für den nun erdachten Zweck erforderlichen Daten liegen entweder gar nicht oder nicht in der erforderlichen Art und Weise vor. Eine solche Situation ist keine Seltenheit, wenn konkrete Anwendungsszenarien nicht als Ausgangspunkt der Digitalisierungsmaßnahmen verstanden werden, sondern lediglich als nettes Add-on, das sich irgendwann von selbst ergibt.
Für erfolgreiche Projekte müssen konkrete und potenzielle Use-Cases von Anfang an Dreh- und Angelpunkt sein, auf dem alles weitere Vorgehen aufbaut. Welche Analysen und Erkenntnisse würden einen tatsächlichen Vorteil für die Geschäftsabläufe mit sich bringen? Welche Daten sind hierfür erforderlich und in welchem Format müssen diese übermittelt werden, damit nachfolgende Systeme auch damit arbeiten können? Werden Fragen wie diese bedacht, bevor eine Maschine mit zusätzlicher Sensorik nachgerüstet wird oder ein SPS-Entwickler an seine Arbeit geht, lässt sich die Wahrscheinlichkeit deutlich erhöhen, am Ende über ein digitales Szenario zu verfügen, mit dem sich tatsächlich unmittelbar weiterarbeiten lässt.
Alles oder nichts
Ein zu hoch gegriffener Use-Case kann jedoch auch hemmen. Ein Beispiel: Wer sich mit dem „Digital Twin“ beschäftigt, stößt schnell auf die medienwirksamen Szenarien der großen Industriekonzerne, bei denen beispielsweise die optimale Konfiguration für die Inbetriebnahme einer Maschine durch einen digitalen Zwilling im Vorfeld simuliert wird, der alle physikalisch relevanten Faktoren miteinbezieht und auf diese Weise ideale Temperaturen oder Drehmomente ermittelt.
Tatsächlich ist die Lancierung eines derart komplexen Szenarios in einem „Big Bang“ für einen Mittelständler wenig realistisch. Vielmehr empfiehlt es sich, in kleinen Schritten vorzugehen: Statt einer komplexen Simulation lässt sich ein digitaler Zwilling zum Beispiel zunächst in Form eines digitalen Typenschilds für Maschinen nutzen. Mithilfe eines QR-Codes auf der Maschine haben Mitarbeiter in der Werkshalle so unmittelbar alle wichtigen Informationen für die Inbetriebnahme oder Produktivnutzung zur Hand, von Schulungsvideos über Datenblätter bis hin zu Handbüchern, wodurch der Rechercheaufwand deutlich reduziert wird. Szenarien wie diese bieten Unternehmen schnell einen unmittelbaren praktischen Nutzen, während gleichzeitig durch die Erstellung von digitalen Zwillingen für alle Maschinen nach und nach die Grundlage entsteht, immer komplexere Szenarien in der Praxis zu realisieren.
Entscheidend ist in diesem Fall allerdings, von Anfang an auf Standards zu setzen – im Kontext des digitalen Zwillings beispielsweise auf die sogenannte Verwaltungsschale (VWS, engl.: Asset Administration Shell, AAS). Dies gilt generell für alle Digitalisierungsmaßnahmen, auch für die schrittweise Digitalisierung einzelner Prozessstufen, die später zu einem großen Ganzen verbunden werden sollen. Nur durch Standards lässt sich sicherstellen, dass die genutzte Semantik auch später in anderen Kontexten verstanden wird und sich damit nahtlos in neue Szenarien integrieren lässt.
Lost in Translation
Apropos Verständnis: Auch die Schnittstelle zwischen klassischer IT-Entwicklung und Maschinenprogrammierung kann in der Praxis zu Problemen führen, denn nicht selten finden sich in beiden Bereichen völlig unterschiedliche Herangehensweisen an Entwicklung. Während IT-Spezialisten in ihrer Entwicklungsumgebung arbeiten, darin versionieren und testen, arbeiten SPS-Experten oft nach wie vor ohne automatisierte Tests oder Versionsverwaltung und setzen ihre Änderungen unmittelbar an der Maschine um. Auch die Sprache selbst kann Unterschiede bergen: So beginnen SPS-Entwickler ihre Zählung in Arrays beispielsweise üblicherweise mit 1, während klassische Softwareentwickler bei 0 beginnen. Werden Abweichungen wie diese nicht entsprechend berücksichtigt, sprechen die Experten beider Bereiche im schlimmsten Fall von völlig unterschiedlichen Dingen, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Zusammenbringen lassen sich beide Welten, indem Unternehmen den Austausch fördern und ihre Mitarbeiter für mögliche Unterschiede sensibilisieren. Indem beispielsweise der IT-Entwickler dem SPS-Experten bei der Programmierung der Maschine vor Ort über die Schulter sieht, entsteht ein besseres Verständnis auf beiden Seiten: Die IT kann besser nachvollziehen, wie eine Maschine konkret programmiert wurde, während gleichzeitig ein Austausch darüber stattfinden kann, welche Datenströme der Maschine auf welche Weise an welche Folgesysteme weitergegeben werden sollen.
Act now, secure later
Dass Sicherheit bei all diesen Vernetzungsszenarien an oberster Stelle stehen muss, ist sicher kein Geheimnis. Oft zählen entsprechende Bedenken zu den Haupthinderungsgründen, die der Realisierung der geplanten Digitalisierungsstrategie im Wege stehen. Was, wenn sensible Betriebsdaten oder wertvolles geistiges Eigentum in die falschen Hände geraten? Was, wenn Cyberkriminelle Produktionsprozesse lahmlegen oder kritische Daten entwenden? Schadensfälle wie diese bedrohen im schlimmsten Fall die Existenz des Unternehmens.
Also am besten gleich komplett auf die Digitalisierung verzichten, um kein Risiko einzugehen? Wer so denkt, riskiert stattdessen, von der Konkurrenz abgehängt zu werden, und damit ebenfalls den Erfolg des Unternehmens. Viel sinnvoller ist daher eine solide Security-Strategie. Ist das dafür erforderliche Experten-Know-how nicht inhouse verfügbar, empfiehlt es sich, auf externe Security-Spezialisten zurückzugreifen, die bei der Entwicklung eines soliden Absicherungsplans sowie der Vermeidung möglicher Einfallstore für Cyberkriminelle unterstützen. Diese gebotene Sorgfalt gilt auch und insbesondere für vermeintlich „kleine“ Digitalisierungsschritte, die sich schnell durchführen lassen – denn oft ziehen die Verantwortlichen mögliche Risiken hier nicht einmal in Betracht.
Fazit: Digitalisierung mit Sorgfalt und Weitsicht
Vom Use-Case her denken, auf Standards setzen, für Austausch sorgen, Experten konsultieren – mit diesen vier zentralen Maximen lassen sich bereits einige der häufigsten Stolpersteine auf dem Digitalisierungsweg im Maschinenbau umgehen. Dennoch sind konkrete Fallstricke immer stark vom individuellen Unternehmen und dessen Gegebenheiten abhängig, sodass Maßnahmen in jedem Fall stets kritisch durchdacht werden und bei Bedarf weitere Experten für den jeweiligen Bereich hinzugezogen werden sollten. Wer gründlich und vorausschauend an seine Digitalisierungsbestrebungen herangeht, leistet wichtige Vorarbeit, am Ende wirklich die Ergebnisse zu erzielen, die im Maschinenbau in der heutigen Zeit benötigt werden: solide vernetzte Abläufe und Produktions-Assets, die nicht nur für mehr Effizienz, Transparenz und Automatisierung in der täglichen Arbeit sorgen, sondern auch die Grundlage schaffen für die neuen, digitalen Geschäftsmodelle der Zukunft.
Christian Heinrich, Digital Twin-Experte bei Xitaso