Künstliche Intelligenz
„Machine Learning hilft, diesen Schatz zu heben“
Vor rund zwei Jahren gründete der VDMA ein Kompetenzzentrum, um dem Maschinen- und Anlagenbau ein Fernrohr für den Blick in die Zukunft zu bieten. Dr. Eric Maiser leitet das VDMA Future Business und erklärt SCOPE-Redakteurin Caterina Schröder, wo Künstliche Intelligenz schon Usus ist und welche Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen. Dabei sind die selbstständigen Algorithmen längst nicht das einzige Zukunftsthema, das den Wandel im Maschinen- und Anlagenbau begleiten wird.
SCOPE: VDMA Future Business wurde 2015 als Competence Center gegründet. Welche sind die nächsten Ziele, die Sie verfolgen?
Dr. Eric Maiser: Der VDMA bietet mit Future Business einen Think-Tank als Dienstleistung für den Maschinen- und Anlagenbau, der relevante Trends aufspürt und für die Firmen erkennbar und nutzbar macht. Wir leisten damit einen Beitrag zur Zukunftssicherung unserer Mitglieder und sorgen gleichzeitig dafür, dass auch der Verband selbst stets am Puls der Zeit bleibt. Das versetzt uns in die Lage, strukturiert neue Ziele zu identifizieren und zu verfolgen. Pro Jahr entwickeln wir zwei Zukunftsbilder zu selektierten komplexen Trends, die das Potenzial für tiefgreifende Änderungen im Maschinen- und Anlagenbau haben. VDMA hat sich dazu das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, einen renommierten Player in der Trendanalyse, ins Boot geholt. Wir bereiten diese Trendthemen mit Forschern, Mitgliedern und Kundenbranchen als Leuchtturm auf, diskutieren und validieren die Ergebnisse in Summits mit unserer Industrie und sorgen dann für die Vertiefung in ausgewählten VDMA-Fachverbänden. Neben Machine Learning sind so Zukunftswerkstoffe, Power-to-X und die autonomisierte Supply Chain in den Fokus gerückt. VDMA schafft aus diesen Aktivitäten jeweils themenspezifische, branchenübergreifende Netzwerke und bei Bedarf Spin-off-Gruppierungen. Aktuelles Ziel: die Gründung einer neuen VDMA-Gruppierung für Start-ups.
SCOPE: Auf der letzten Business Summit im November 2016 wurden die Themen Künstliche Intelligenz und Machine Learning diskutiert. Worin liegt der wirkliche Mehrwert für die Maschinenbauindustrie?
Maiser: Zunächst einmal in besserer Qualität der Produkte, höherer Verfügbarkeit der Maschinen, Komponenten und Systeme bei günstigerem Preis, besserer Energie- und Ressourceneffizienz durch weniger Ausschuss. Produktion und Logistik werden flexibler und individualisierbarer. Machine Learning hilft nicht nur große Datenmengen automatisch auszuwerten, sondern unbekannte Zusammenhänge herzustellen, ungewöhnliche Schlüsse zu ziehen – und das in Echtzeit, sobald die Daten anfallen. Menschen sind bei der Fülle von Daten, die Maschinen heute schon generieren, schnell überfordert. Bei der Diskussion des Themas wurde auch schnell klar, dass sich attraktive, gänzlich neue Geschäftsmodelle auftun können, beispielsweise bei Predictive Maintenance, As-a-Service-Angeboten, Datenvermarktung bis hin zu Mensch-Maschine-Schnittstellen. Das stärkt die Wettbewerbsfähigkeit der Maschinenbaufirmen. Attraktive neue Märkte mit zweistelligem Wachstumspotenzial tun sich für den Maschinenbau auf, bei Hard- und Software. Zudem lässt KI völlig neue Berufsbilder entstehen und macht die Firmen attraktiv für „Digital Natives“. Die Nutzungsmöglichkeiten von Machine Learning für den Maschinen- und Anlagenbau können sich über alle Unternehmensbereiche erstrecken, vom Konstruktionsprozess über die Verwaltung, Herstellung bis hin zu Nutzungsphase und Reengineering.
SCOPE: Welches sind die Voraussetzungen, damit Machine Learning im Maschinenbau Einzug erhalten kann?
Maiser: Machine Learning benötigt viele Daten, damit es überhaupt funktioniert. Die Systeme müssen trainiert werden. Der Punkt ist: Sensoren und Messtechnik werden bereits zahlreich in Maschinen verbaut. Daten, die auch im Zuge des Internet of Things und mit Cyberphysischen Systemen massenhaft generiert werden, sind für den Maschinen- und Anlagenbau eine riesige Ressource, die heute noch viel zu wenig genutzt wird. Daten sind das Öl des 21. Jahrhunderts. Machine Learning hilft, diesen Schatz zu heben. Jenseits der Technik müssen aber auch wichtige Rahmenbedingungen stimmen: Datenzugang und Datenhoheit müssen gesichert werden. Heute ist nicht immer klar, wem die Daten gehören, Abstimmung mit Kunden ist wichtig. Möglicherweise müssen sich Unternehmen vernetzen, um Datenpools zu bilden. Auch ethische Fragen spielen eine Rolle. Wichtigster Faktor: In den Firmen muss Software- und Datenkompetenz aufgebaut werden, intern oder über Dienstleister. Machine Learning sorgt dafür, dass Software und Informatik immer stärker zum maßgeblichen Innovationstreiber im Maschinenbau werden.
SCOPE: Wie wird sich die Autonomisierung im Maschinenbau darstellen und welches sind die ersten Schritte dorthin?
Maiser: Mit Industrie 4.0 verfügt unsere Industrie über ein Werkzeug, das die adaptive Automatisierung bis hin zur selbstorganisierenden Produktion erlaubt. Im Grunde ist das schon ein gewaltiger Schritt in Richtung Autonomisierung. Machine Learning wird Industrie 4.0 weiteren Schub verleihen durch eigenständiges Lernen und selbstprogrammierende Systeme. Aus „Big Data“ wird plötzlich „Smart Data“, aus Information wird Wissen. In einigen Bereichen des Maschinenbaus hat Machine Learning schon längst Einzug gehalten, zum Beispiel bei der industriellen Bildverarbeitung, bei kollaborativen Robotern oder in der Chipproduktion – die ersten Schritte sind also schon getan. Im Konsumerbereich hat sich Machine Learning fast unbemerkt verbreitet. Niemand denkt bei der Sprachsteuerung des Handys, der Stauvorhersage oder der Gesichtserkennung der Kamera an den zugrundeliegenden KI-Algorithmus. Bequemlichkeit, Arbeitserleichterung und neue Services sind der Schlüssel für die Akzeptanz, insbesondere bei Maschinenbedienern. Mit dem „digitalen Guru“, der die Erfahrung der besten Linienexperten einer Firma auf sich vereint, wird beispielsweise ein Ungelernter in kürzester Zeit zum Profi an der Maschine. Der Maschinenbau ist eine sehr heterogene Industrie. Wie bei Industrie 4.0 ist eine schrittweise Einführung zu erwarten. Unsere Szenariostudie zum Thema gibt zahlreiche Anhaltspunkte zu Dynamik und Ausgestaltung der Einführung von Machine Learning. Denkbar sind sowohl ausschließlich unterstützende Prozesse, bei der die Entscheidungskompetenz beim Menschen verbleibt, als auch eine weitergehende Umsetzung, bei der umfangreiche Entscheidungskompetenz an Computerprogramme übertragen wird. Die Konstruktion und Entwicklung könnten die ersten Anwendungsbereiche für Machine Learning sein, da sie keine Echtzeitanwendungen erfordern.
SCOPE: Gibt es auch Aspekte im Bereich des Machine Learning bzw. der KI, die keine Relevanz für den Maschinen- und Anlagenbau haben werden?
Maiser: Der Maschinen- und Anlagenbau ist in erster Linie eine große Anwenderbranche, Machine Learning ist ein Werkzeug. Deshalb wird die wissenschaftliche Forschung für KI-Systeme nicht in unserer Industrie zuhause sein. Wichtig ist es darum, den Schulterschluss mit Informatikern zu suchen. Ähnlich wie beim Berufsbild Mechatroniker brauchen wir neue Aus- und Weiterbildung von Datenanalysten mit Maschinenbauaffinität. Es wird sicherlich Maschinenbau-Sektoren geben, für die Machine Learning kaum eine Rolle spielen wird, genauso wie Firmen sich möglicherweise aus ethischen Gründen gegen eine Einführung entscheiden. Wegen der großen Heterogenität des Maschinenbaus greifen ansonsten in Summe alle Aspekte der KI – deshalb hat der VDMA einen eigenen Arbeitskreis Machine Learning bei VDMA Software und Digitalisierung gegründet, der das Thema mit Anbietern und Anwendern substanziell ausbaut.
SCOPE: Welche weiteren Themen werden den Maschinen- und Anlagenbau in den kommenden Jahren stark beeinflussen?
Maiser: Im Trendradar von VDMA Future Business haben wir über 100 maschinenbaurelevante Trends mit Zeithorizonten bis über zehn Jahren aus den Bereichen Gesellschaft, Technik, Ökonomie, Ökologie und Politik herausgearbeitet. Der Maschinen- und Anlagenbau ist die Industrie, die Trends in Produkte umsetzt. Das macht die Themen, die uns beeinflussen, so vielgestaltig – von Individualisierung und Globalisierung bis hin zu Nachhaltigkeit und sogar Lebenswissenschaften. Digitalisierung und Konnektivität sind aber Trends, die besonders stark hervortreten, so dass ich glaube, dass wir vor einer neuen Ära stehen: Der Wandel, den die Elektronik in den 1980er Jahren im Maschinenbau eingeleitet hat, wird jetzt durch Software und Informatik weitergeführt.