Systemische Mensch-Maschine-Integration
Der Mensch hat´s in der Hand
Ein zukunftsweisender Weg für die Entwicklung handgehaltener Geräte.
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Was haben Fahrräder, Zahnarztbohrer, Skalpelle, Staubsauger und handgehaltene Geräte wie Bohrmaschinen, Akkuschrauber und Stichsägen gemeinsam? Der Anwender befindet sich in permanenter und direkter Interaktion mit diesen Systemen, steht direkt im Leistungsfluss und ist unmittelbar mitverantwortlich für die Güte des Ergebnisses. Eine ganzheitliche Betrachtung von Mensch und Gerät ermöglicht besseres Systemverständnis und unterstützt eine zielgerichtete Produktentwicklung. Notwendig für diesen Entwicklungsansatz sind neuartige Prüfstandskonzepte zur frühzeitigen und ganzheitlichen Untersuchung des Gesamtsystems Mensch-Maschine.
In der Vergangenheit stand in der Produktentwicklung handgehaltener Geräte vor allem das Gerät mit seinen einzelnen Komponenten im Fokus. Durch den Ansatz der systemischen Mensch-Maschine-Integration lässt sich der Einfluss des Menschen auf das Gerät und dessen physische Wechselwirkung mit der Anwendung - etwa beim Schlagbohren in Beton über Kopf - stärker als bisher in den Mittelpunkt der Produktentwicklung in der Gerätebranche rücken. Durch neue Messmethoden, innovative Prüfstandskonzepte und produktspezifische Untersuchungsansätze innerhalb dieses Forschungsfeldes kann eine vollständigere Betrachtung des Gesamtsystems Mensch, Gerät und Anwendung möglicht werden.
Nachbildung der Interaktion als Simulationsmodelle
Menschen als Anwender sind in ihrer Konstitution sehr heterogen. Sie unterscheiden sich stark in Körpergröße und -gewicht, Arm- und Greifkraft. Beim Arbeiten mit einem handgehaltenen Gerät sind Untergrund, etwa Beton oder Holz, dynamisches Verhalten des Geräts auf diesem Untergrund sowie die Armhaltung des Anwenders relativ zum Körper maßgeblich für die Art und Weise der Interaktion zwischen Anwender und Gerät. Neben der oft als "handwerkliches Geschick" bezeichneten Fähigkeit des Anwenders sind es diese meist nicht direkt beeinflussbaren Eigenschaften, die zu individuellen Interaktionen von Anwender und Gerät führen und somit die Güte des Arbeitsergebnisses erheblich beeinflussen. Auf einem eigens für diese Untersuchungen konstruierten Prüfstand lassen sich diese Interaktionen systematisch untersuchen, ohne die reale Anwendung und ein tatsächliches Gerät zu verwenden. Er ermöglicht es, den Anwender zu vermessen, zu klassifizieren und sein dynamisches Verhalten in einem Modell nachzubilden, um diese bei weiterführenden Untersuchungen im Gesamtsystem besser zu berücksichtigen.
Bei diesem Hand-Arm-System-Prüfstand, wie er sich derzeit im Aufbau befindet, ist eine hydraulische Hubeinheit senkrecht an der Wand im hinteren Teil installiert. Nach vorn versetzt befinden sich die Linearführungen. Die beiden Schlitten auf den Linearführungen beinhalten die Lagerung für ein Haltegestell von zwei Linearanregern (Shaker). Deren Haltegestell lässt sich in Höhe und Winkel auf verschiedene Körpergrößen oder Arbeitspositionen anpassen. Der Anwender hält in seiner rechten Hand einen Griff, der von den beiden Shakern zu einer überlagerten Schwingung angeregt wird. Dargestellt ist die Armhaltung 45 Grad zur Körperlängsachse nach unten gerichtet. Ein Shaker - in Flucht zum Anwenderarm - liefert die axiale und der zweite Shaker - 90 Grad versetzt zum Ersten - die angulare Anregung. Beide Shaker übertragen diese Anregung auf einen Handgriff und sind individuell in Amplitude und Frequenz regelbar. Die maximale Anregungsfrequenz beträgt 1.000 Hertz. Diese überlagerte Schwingung kann die Anregung durch verschiedenste handgehaltene Geräte simulieren. Beispielsweise bei einer Schlagbohrmaschine wirkt, durch den Schlag eine axiale und durch die Reibung des Bohrers im Bohrloch eine angulare Anregung und damit eine solche Überlagerung auf den Anwender. Durch die flexible Positionierbarkeit des Handgriffs zum Anwender und der getrennten Regelbarkeit beider Shaker können die oben beschriebenen Einflussgrößen auf den Anwender abgebildet und systematisch untersucht werden. Für die Erfassung der dynamischen Kenngrößen, welche die Wechselwirkungen zwischen Anwender und Gerät beschreiben, sind mehrere Sensoren in den Handgriff des Prüfstands integriert. Neben Sechs-Achs-Kraftaufnehmer auf DMS-Basis ermöglichen auch Beschleunigungs- und Wegsensoren eine detaillierte Untersuchung der entstehenden Interaktionen. Ziel der Untersuchungen ist es, physische und virtuelle Ersatzsysteme - sogenannte Hand-Arm-Modelle (HAM) - zu entwickeln, die ein wirkungsäquivalentes dynamisches Verhalten (Kräfte und Beschleunigungen) zum Menschen aufweisen. Mit diesen Modellen können verschiedene Geräte gleichartig zum Anwender, aber ohne den Anwender selbst, untersucht werden. Durch diesen Ansatz aus dem Forschungsfeld der systemischen Mensch-Maschine-Integration wird der Mensch innerhalb von Untersuchungen am Gerät konsequent berücksichtigt, während die nachteilige Heterogenität der menschlichen Konstitutionen ausgeschlossen werden kann.
Automatisierte Untersuchung schon in früher Entwicklungsphase
Für diverse Anwendungen, Armhaltungen und Anwender lassen sich mit dem Prüfstand unterschiedliche HAM entwickeln und physisch aufbauen. Diese physischen HAM bestehend aus Feder- und Dämpferelementen verhalten sich zum Menschen in Kombination mit einem Gerätetyp nahezu gleich. Bisher mussten bei der Prüfung von handgehaltenen Geräten Mitarbeiter Dauertests und Erprobungsversuche mit den Geräten durchführen - das ist kostenintensiv und führt zu ungewollten Varianzen im Versuch, da die Anwendergruppen heterogen sind und anders als die Kunden wechselwirken. Mit diesem Geräteprüfstand lassen sich verschiedene Geräte automatisiert in einer frühen Entwicklungsphase mit ersten Prototypen inklusive der Anwendereinflüsse untersuchen.
Am realitätsnahen Geräteprüfstand werden handgehaltene Geräte mit wirkungs-äquivalenter Abbildung des Anwenders getestet. Dieser Prüfstand besteht aus einem Industrieroboter, einem physischen Modell des dynamischen Anwenderverhaltens (grün), dem dazugehörigen Gerät als Prüfobjekt (rot) und einem Gestell, das verschiedene Untergründe aufnehmen kann, etwa Holz, Beton und Trockenbauwände, und diese in unterschiedlichen Orientierungen und Höhen positioniert. Der Roboter, ein Kuka KR210 R2700, positioniert das Gerät zum Untergrund und bildet den aktiven Teil des Menschen ab. Der Roboter liefert hierzu eine Konstantkraft entsprechend der menschlichen Vorschubkraft auf ein Gerät. Das HAM - der passive Teil des Menschen - ist am Roboter-Flansch befestigt samt Kraftmesstechnik, Beschleunigungssensoren und optischen Wegsensoren. Auf der dem Roboter abgewandten Seite ist es mit dem Griff des Geräts verbunden; dieser ist leicht modifiziert und ebenfalls mit Kraft- und Beschleunigungsmesstechnik ausgestattet. An dieser Messstelle wird überwacht, ob Kräfte, Momente und Beschleunigungen mit menschlichem Anwender und dem mit dem Anwender dynamische äquivalenten Modell vergleichbar sind. Der Prüfstand ermöglicht Erprobungsversuche unter immer gleichen Bedingungen mit einer simulierten Vielzahl verschiedester Anwender in unterschiedlichsten Arbeitspositionen. Neben der wesentlichen Verbesserung der Aussagequalität bei der Validierung handgehaltener Geräte durch konstante Randbedingungen (Anwender, Untergrund und Umwelt) ist auch eine Kostensenkung durch den konsequenten Einsatz von Methoden aus der systemischen Mensch-Maschine-Integration möglich. Prof. Matthiesen/pb