Automatisierte Handhabung
Orientierung behalten und Kiste leeren
Bin Picking und Funktionserweiterungen. In der automatisierten Handhabung sind Bin-Picking und modulare Erweiterung von Robotersystemen von großer Bedeutung. RIF und match forschen an Lösungen für die Kollisionsproblematik in Form einer Störkontur durch den Behälter oder an kostengünstigen Funktionserweiterungen durch passive Gelenkstrukturen.
Die Rekonfigurierbarkeit eines Fertigungssystems ist ein Schlüssel für Unternehmen, um schnell und kosteneffizient auf sich wandelnde Märkte reagieren zu können und konkurrenzfähig zu bleiben. So machen beispielsweise starke Schwankungen der Nachfrage von Produkten oder deren Variantenvielfalt in der Regel Anpassungen der Produktionssysteme notwendig. Hinsichtlich der Struktur, des Freiheitsgrads oder der Steuerung ist deren Modularität ein Merkmal zur Sicherung eines hohen Maßes an Rekonfigurierbarkeit.
Vor diesem Hintergrund werden am match Orientierungssysteme mit passiven Drehgelenken erforscht, die beispielsweise als Greifermodul in bestehende Handhabungssysteme integriert werden können. Solche Systeme eröffnen einen Ansatz zur Freischaltung zusätzlicher Rotationsfreiheiten, während der Eingriff in die Dynamik des Robotersystems infolge der reduzierten zu bewegenden Masse gering gehalten werden kann. Bei diesem Ansatz wird auf den Kostentreiber Antrieb und damit auf viele bewegliche Teile des Antriebsstrangs verzichtet. So sollen insbesondere der konstruktive Aufwand sowie die Kosten einer konventionellen vollständigen Aktuierung gleichwertiger Systeme umgangen werden.
Wie beim Schwingen eines Pendels
Der aktuelle Prototyp ist eine Erweiterungsstruktur für einen 4-dof-delta-Parallelroboter. Sie besteht aus zwei Rotationsachsen in Form eines Kardangelenks und bildet zusammen mit der vorhandenen vertikalen Rotationsachse des Parallelroboters eine vollwertige Handachse mit vollem Orientierungsvermögen. Die Zielwinkel der passiven Achsen werden durch das Ausnutzen der Beschleunigungs-/Trägheitskräfte der Strukturkomponenten beim Verfahren des Parallelroboters im Handhabungsprozess eingestellt. Das Funktionsprinzip ist mit dem Schwingen eines Pendels vergleichbar, welches im Umkehrpunkt der Schwingung mittels einer Bremse festgesetzt wird.
Zentrale Forschungsthemen am match sind die aufgabenorientierte Synthese solcher Systeme sowie die Regelung des typischerweise nichtlinearen Systemverhaltens. Für den derzeitigen Prototypen ist eine energiebasierte Regelung im Einsatz, die zusätzlich die Positionierungs- und Orientierungsaufgabe unter Vorgabe der initialen und gewünschten Roboterkonfiguration zeitoptimal aufeinander abstimmt. Anwendungen sind klassische Pick-and-Place-Prozesse mit hoher Dynamik. Denkbar sind unregelmäßige Prozesse mit großen zeitlichen Abständen, wie das Öffnen von Abdeckungen oder das Befüllen von Magazinen, bis hin zu regelmäßigen Orientierungsvorgängen auf Förderbändern.
Hoher Entleerungsgrad in kurzer Zeit
Auch das Bin Picking fällt in diesen Bereich. Darunter wird die automatisierte Handhabung von ungeordnet liegenden Teilen verstanden. Um diese Variante der Handhabung erfolgreich umsetzen zu können, müssen vorab bestimmte Rahmenbedingungen erfüllt sein. Hierzu gehören beispielsweise die Kollisionsproblematik in Form einer Störkontur durch den Behälter oder das Ziel, eine möglichst geringe Zykluszeit zu erreichen. Um das volle Potenzial des Bin Pickings ausschöpfen zu können, entwickelt die Abteilung Produktionsautomatisierung des RIF unter der Leitung von Prof. Dr. Kuhlenkötter Lösungsansätze.
Das Bin Picking mit dem kollaborativen ABB-YuMi-Roboter ist eines der Forschungsgebiete, in dem die erarbeiteten Ergebnisse umgesetzt und validiert werden. Die Anforderungen sind zum einen Prozessstabilität und Zuverlässigkeit sowie ein hoher Entleerungsgrad bei gleichzeitig geringer Zykluszeit. Auf die Ausprägung der Resultate wirken verschiedene Einflussfaktoren. Dazu zählen die Greiftechnik des Roboters, Bauteileigenschaften sowie Einflüsse aus der Umgebung der Applikation (beispielsweise Fremdlicht).
Ein weiteres Forschungsgebiet im Bereich des Griffs in die Kiste ist das sogenannte Virtual Bin Picking, welches die Konfiguration und Simulation von unterschiedlichen Bin-Picking-Applikationen beinhaltet. Die zentrale Problemstellung bei der Umsetzung dieser Applikationen besteht unter anderem darin, dass die Beurteilung einer anforderungsgerechten Machbarkeit erst in einem vorangeschrittenen Projektstadium möglich ist.
Weitere Hindernisse bilden der große Aufwand der realen Evaluierung von Bin-Picking-Anwendungen sowie die Notwendigkeit des Durchlaufs von mehreren Iterationsschleifen in der Entwicklung. Um den erwähnten Problemen entgegenzuwirken, wird ein bestimmtes Vorgehen zur Lösung erarbeitet. Dabei erfolgt eine Verlagerung von Entwicklungsschleifen in die simulative Umgebung zur Reduktion des Engineering-Aufwandes. Es werden Methoden entwickelt, mit denen die Problemstellung virtualisiert wird, sodass bereits in frühen Planungsphasen belastbare Aussagen über die Qualität des realen Prozesses getroffen werden können.
G. Borchert/M. Sopalski/as
Kurz erklärt: Der MHI e.V.
Die Wissenschaftliche Gesellschaft für Montage, Handhabung und Industrierobotik e.V. (MHI e.V.) ist ein Netzwerk renommierter Universitätsprofessoren – Institutsleiter und Lehrstuhlinhaber – aus dem deutschsprachigen Raum. Die Mitglieder forschen sowohl grundlagenorientiert, als auch anwendungsnah in einem breiten Spektrum aktueller Themen aus dem Montage-, Handhabungs- und Industrierobotikbereich. Weitere Infos zur Gesellschaft, deren Mitgliedern und Aktivitäten: www.wgmhi.de.
Kurz erklärt: Das RIF
Das RIF Institut für Forschung und Transfer e.V. ging 1990 aus dem Fachbereich Maschinenbau der Universität Dortmund hervor. Im RIF sind Hochschullehrer aus verschiedenen technologieorientierten Universitätsbereichen zusammengeschlossen, um interdisziplinär und industrienah zu arbeiten. Ihr Ziel ist es, fertigungsorientierte Konzepte im Hinblick auf eine Integration in den Produktlebenszyklus zu verbessern. Schwerpunkte liegen in den Bereichen Qualitätsmanagement, Automatisierungs- und Handhabungstechnik, Fabrikorganisation, Arbeitsorganisation, Logistik und Mikrostrukturtechnik. Der Bereich Robotertechnik unter Leitung von Prof. Dr. Jürgen Roßmann fokussiert auf 3D-Simulationstechnik. www.rif-ev.de.
Kurz erklärt: Das match
Der Lehrstuhl Montagetechnik (match) der Leibniz Universität Hannover wurde 2013 von Prof. Dr Annika Raatz gegründet. Seitdem werden Ideen für die automatisierte und robotergestützte Montage und Handhabung in der Produktion verfolgt. Die Forschungsschwerpunkte sind in den Bereichen Kollaborative Montage, Soft Robotics, Handhabungs- und Steuerungstechnik sowie Präzisionsmontage angesiedelt. Daneben bietet das Institut ein breites Spektrum an möglichen Industriekooperationen an. www.match.uni-hannover.de