Interview mit Dr. Ansgar Kriwet

„Industrie 4.0: dunkle Straße mit wenig Leuchtpfosten“

Alle reden über Industrie 4.0. Doch wie weit sind wir wirklich? Dr. Ansgar Kriwet, Vorstand Vertrieb bei Festo, erläutert SCOPE-Chefredakteur Hajo Stotz den derzeitigen Stand der Industrie-4.0-Bestrebungen und erklärt, was die Industrie vom Consumer-Bereich lernen kann.

Dr. Ansgar Kriwet ist Vorstand Vertrieb bei Festo.

SCOPE: Herr Dr. Kriwet, Industrie 4.0 scheint sich immer mehr in Richtung CIM Reloaded zu entwickeln – zwar mit schnellerer Kommunikation, preiswerteren Komponenten, aber denselben Schnittstellenproblemen. Wie sehen Sie die Entwicklung?

Dr. Ansgar Kriwet: Industrie 4.0 ist derzeit noch eine dunkle Straße mit wenig Leuchtpfosten. Es ist noch nicht richtig klar, wohin die Reise geht. Die Computerentwicklung in der Fertigung ist ja, wie Sie sagen, nichts Neues, das gibt es seit über 15 Jahren. Und heute ist auch bereits ein bemerkenswerter Stand erreicht. Wir haben einen großen Grad an Integration innerhalb der Fertigung. Eine moderne Fertigung ohne CAM, ohne CAD, ohne vertikale und horizontale Vernetzung der Anlagen ist nicht mehr vorstellbar. Doch Industrie 4.0 wird das nochmal umwälzen. Wir sind erst dabei zu erahnen, welche Chancen sich daraus ergeben.

SCOPE: Was ist denn das Umwälzende an Industrie 4.0?

Dr. Kriwet: Bis heute findet diese Integration innerhalb proprietärer Systeme statt. Solange man sich innerhalb eines Systems bewegt, ist man gut aufgestellt. Aber wehe, man versucht flexibel umzubauen. Wehe, man versucht andere Anbieter zu integrieren. Dann wird das sehr, sehr schwierig. Und das ist die Richtung, in die Industrie 4.0 weist: eine viel höhere Flexibilität mit neuen Entwicklungen mit neuen Anbietern und damit deutlich mehr Entwicklungsdynamik.

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SCOPE: Wieso erhöht sich damit die Flexibilität?

Dr. Kriwet: Stand heute wird ja die Mehrzahl der industriellen Anlagen noch zentral gesteuert. In der horizontalen Ebene kann durch die Verbindung von mehreren Anlagen, die sich selbstständig miteinander abgleichen, die zentrale Steuerung in den Hintergrund rücken. Ebenso bei der Kommunikation zwischen Werkzeug und Maschine. Damit ist es möglich, bereits sehr viel mehr Flexibilität in die Anlagen einzubauen. Und durch die vertikale Integration, also die durchgehende Vernetzung von der Sensorebene bis zur Maschinensteuerung und bis hoch in eine Cloud. In der stehen dann Daten zur Verfügung, deren Nutzen man noch gar nicht kennt.

SCOPE: An was denken Sie da beispielsweise?

Dr. Kriwet: Der Consumer-Bereich zeigt uns den Weg: Beim Sport transferieren wir per Smartwatch die Daten von Blutdruck, Herzfrequenz, unsere Bewegungen an einen zentralen Server und tauschen das mit Freunden und anderen aus. Und bekommen dann ein Angebot von der Versicherung für einen günstigeren Tarif - weil wir Sport treiben. Der nächste Schritt muss es sein, diese Flexibilität in die Industriewelt zu bringen.

SCOPE: Hängt der Erfolg von Industrie 4.0 nicht auch von einem entsprechenden Engineering der Anlagen ab?

Dr. Kriwet: Auf jeden Fall. Wenn Sie sich den Prozess der Konstruktion einer Maschine einmal anschauen, dann ist der sehr fragmentarisch. Da sitzt ein Mechanikkonstrukteur und konstruiert das Grundgerüst der Maschine. Wenn er fertig ist, kommt der Elektroingenieur und konstruiert dieselbe Maschine noch mal in seiner Welt, in seiner elektrischen Beschreibungssprache, mit Motoren, Sensoren und Steuerungstechnik. Und wenn der fertig ist, kommt der bedauernswerte Dritte. Das ist der Software-Ingenieur, der dann vor der Anlage sitzt und versucht, die dritte Konstruktionsstufe, nämlich die Software, ans Laufen zu bringen. Eine stärkere Integration dieser drei Konstruktionsprozesse zu einem durchgängigen Prozess bietet ein sehr großes Potenzial an Effizienzsteigerung und auch an Geschwindigkeitssteigerung im Engineering.

„Grenzgänger in vielen Bereichen“

SCOPE: Reicht dazu der derzeitige Stand der Maschinenbau-Ausbildung aus?

Dr. Kriwet: Nein. Wir brauchen einen anderen Qualifizierungsgrad. Der heutige Maschinenbauingenieur muss ein viel stärkeres Verständnis für Steuerungstechnik und Soft- waretechnik haben. Statt Maschinenbauer brauchen wir jetzt Mechatroniker, die als Grenzgänger zwischen der mechanischen Konstruktion, der Elektronik, der Steuerungstechnik und der Software in all diesen Bereichen kompetent sind. Das ist die Qualifikation, die wir zukünftig im Maschinenbau brauchen, um Industrie 4.0 zum Erfolg zu bringen. Wir brauchen wieder die Fähigkeit, Technologien zu gestalten. Und dazu muss der Maschinenbauer die Maschine, die er konzipiert, durchdringen.

SCOPE: Gibt es weitere Anforderungen, um Industrie 4.0 erfolgreich zu machen?

Dr. Kriwet: Das alles entscheidende Thema ist Plug and Produce, also die einfache Austauschbarkeit und die einfache Zusammensteckbarkeit von Systemen. Im industriellen Umfeld haben wir uns da an einen Standard gewöhnt, der in der Consumer-Welt längst nicht mehr akzeptiert wird.

Wenn Sie vor 20 Jahren einen PC gekauft haben, mussten Sie ein Wochenende freinehmen, um die Komponenten wie Bildschirm, Drucker, Modem etc. zusammenzustecken, die verschiedenen Treiber von CDs laden und irgendwie das System zum Laufen zu bringen.

Heute stecken Sie alles über standardisierte Schnittstellen zusammen, drücken den Knopf und warten, während der PC sich sämtliche Treiber herunterlädt und sich einrichtet. Nach einer Stunde läuft das Ding. Wenn Sie aber in der Industrie versuchen, ein Steuerungssystem aus Komponenten verschiedener Anbieter zusammenzustellen, dann sind Sie genau auf dem Stand der Consumer-Elektronik vor 20 Jahren. Hier haben wir ein großes Verbesserungspotenzial.

„Zielbild: Smartphones“

SCOPE: Arbeiten Sie daran mit?

Dr. Kriwet: Absolut. Das ist die Vision von Festo. Festo will Automatisierung viel einfacher machen. Um sicherzustellen, dass das Potenzial der Automatisierung besser genutzt wird. Wir stellen fest, dass viele der technischen Funktionen unserer Produkte heute von den Kunden nicht genutzt werden, weil sie ihnen zu kompliziert sind. Das heißt, unser Ziel muss nicht sein, noch mehr Funktionalität einzubauen, sondern die vorhandene einfacher verfügbar zu machen.

SCOPE: Geht das etwas konkreter?

Dr. Kriwet: Das ist alles noch in der Entwicklung, aber unser Zielbild der Standard dafür sind die Smartphones. Ein Smartphone ist ein hochkomplexes Stück Elektronik, das aber ohne Bedienungsanleitung ausgeliefert wird. Weil es so intuitiv bedienbar ist, dass keiner eine Bedienungsanleitung braucht. Man spielt ein bisschen damit und lernt die Logik sehr schnell. Das ist die Welt, in die wir uns bewegen müssen. Wir müssen wegkommen von den dicken Manuals und hin zu einer intuitiven Bedienbarkeit, die dem Kunden den Nutzen der Funktionen, die wir heute im Überfluss haben, überhaupt erst erschließt. Da sehen wir große Chancen für den Maschinenbau.

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