Führungsstrategien

Michael Sudahl,

Holokratie – so schaffen Sie Hierarchien ab

Hierarchische Führungsformen sind out. Immer mehr Unternehmen testen selbstorganisierte Methoden, so etwa die Europace AG. Co-CEO Stefan Kennerknecht sieht den Onlinemarktplatz für Baufinanzierungen und Ratenkredite als Wissensunternehmung prädestiniert, um Verantwortung und Macht abzugeben und eine Selbstorganisation einzuführen, unterstützt durch das „Framework“ Holokratie.

Hierarchische Führungsformen sind out. Immer mehr Unternehmen testen selbstorganisierte Methoden wie Holokratie. Was steckt dahinter und welchen Nutzen bringt sie © CC0 gemeinfrei

In vielen Produktionsunternehmen ist technische Innovation längst Tagesgeschäft. Entwicklungszyklen verkürzen sich und Softwareentwicklung nimmt einen wachsenden Stellenwert ein. Wenn der Anteil an Wissensmanagement steigt, stören Hierarchien und Abstimmungsschleifen. Doch wie funktioniert ein Unternehmen aus 160 Menschen, indem es keine Arbeitsplatzbeschreibungen und Abteilungen mehr gibt, stattdessen Rollen, Kreise, Verantwortlichkeiten und einen übergeordneten Zweck? „Wie ein Organismus“, verdeutlicht Kennerknecht. Holokraten verstehen sich als Teil vom Ganzen. Jeder Mitarbeiter nimmt verschieden Rollen ein und bringt seine Kompetenzen in Kreisen (Meetings) ein.

Ein Rollen-Beispiel sieht so aus:

  • Rolle: Entwicklung
  • Aufgabe/Zweck: Produktinnovationen vorantreiben
  • Verantwortlichkeit (Erwartung der anderen): Alle sechs Monate ein neues Feature vorstellen.
  • Autorität (Verantwortung): „Kundenwünsche müssen an die Rolle Entwicklung weitergegeben werden“
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Weil Europace eine bestehende Organisationsform hatte, wurde nach einem Kick-off ein Weg für die Transformation gesucht. Die Kreise mussten lernen, klassische Führungsaufgaben zu übernehmen, denn: Führungskräfte wurden abgeschafft und deren gehaltene Verantwortung in die Kreise gegeben. Einzelne Abteilungen und Teams experimentierten mit Rollen und Meetings von denen es zwei gibt. Beide kennzeichnen eine vorgegebene Struktur sowie eine klare Moderation:

  • Tacticals: finden ein- bis zweiwöchig in den Kreisen statt. Besprochen werden ähnlich einem Scrum-Meeting die Projektstände und die nächsten Schritte. Bei Bedarf wird geklärt, welchen Input ein Rolleninhaber vom Kreis benötigt, um voran zu kommen.  Es wird nur besprochen, was direkt mit dem Kreis zu tun hat.
  • Governance: Diese Treffen finden alle ein bis drei Monate statt. Zweck und Ziele der Rollen und des Kreises werden hinterfragt.

Hinzukommen:

  • Fokus-Meetings: Das sind operative Meetings zu bestimmten Themen, so wie sie in jedem Unternehmen abgehalten werden. Hier werden Aspekte behandelt, die nicht in die Tacticals und Governance-Meetings passen, sondern eher der Arbeitsorganisation zu zuschreiben sind. Es kommen nur die Rollen zusammen, die mit dem Thema zu tun haben oder durch ihre Expertise eine Lösung beisteuern können.

Die große Herausforderung bei diesem Change-Management-Prozess ist es, die Menschen mitzunehmen. Die Holokratie trennt zwar strikt zwischen Rolle und Person, doch nicht jeder kann sich mal eben von seiner Rolle lösen. Die Identifikation ist oft hoch. Kritiker sehen genau darin einen unmenschlichen Anteil holokratischer Systeme. Hinter den Rollen stecken Biografie und Schicksale. Es ist menschlich, sich über seine Aufgabe, Rolle, zu definieren. „Stimmt“, sagt auch Stefan Kennerknecht. Deshalb sei es wichtig, Räume für diese Bedürfnisse zu schaffen. „Clean The Air“ heißt das in den Berliner Büroräumen. Nach jedem holokratischen Meeting gibt es die Gelegenheit, die Luft emotional zu säubern. Größte Übung dabei: bei sich zu bleiben. Aus der Ich-Position zu sprechen. Verantwortung für Handeln und Gefühl zu übernehmen. Gesagtes sowie Gehörtes zu reflektieren, ohne es persönlich zu nehmen. „Die Werkzeuge sind wichtig“, weiß Kennerknecht. Und meint Kommunikationsprozesse an der Hand zu haben, die eben nicht über den Menschen und seine Würde hinwegfegen, sondern Platz geben für Bedürfnisse und Wünsche.

Der Ton ändert sich also. Holokratin Heike Schmidt fragt in ihrer Rolle als Marketing-Verantwortliche bei Europace ihre Kollegen: „Was brauchst du, um deine Rolle auszufüllen?“ Statt Mitarbeitern zu sagen, was sie zu tun haben, lässt sie diese selbst entscheiden. „Das motiviert“, beobachtet Schmidt und merkt, dass Meetings produktiver würden, weil spannungsbasiert gearbeitet und Transparenz geschaffen wird, statt „laut zu Brüllen“. Jeder hat die Möglichkeit, einen Einwand einzubringen und es ein klares Reglement zur Prüfung führt zur Transparenz. Andererseits bedeutet kein Einwand gegen einen Vorschlag, dass etwas gut genug ist, um es auszuprobieren. „Holokratie liefert Denk- und Herangehensweisen, die ganz anders sind, als jene, die ich in anderen Organisationen kennengelernt habe“, resümiert Schmidt.

In fünf Schritten selbstverwaltet:

1.)  Pro Holokratie: Die Chefetage muss sich für einen Holokratie-Testlauf entscheiden, einen Holokratie-Verantwortlichen bestimmen und ihn mit Handlungsvollmacht ausstatten. Dieser sollte Erfahrung mit Prozess- und Changemanagement haben. Gleichzeitig moderiert er Meetings und ist zentraler Ansprechpartner.

2.)  Konsequenzen klären: Der Holokratie-Verantwortliche sollte die 45-seitige Holokratie-Verfassung lesen und in einer Präsentation die Geschäftsleitung über Konsequenzen der Selbstverwaltung aufklären. Wichtig für Chefs zu wissen: In gewissen Situationen geben sie Weisungsbefugnis ab und delegieren ganz bewusst Verantwortung.

3.)  Kick-Off: Im Workshop erklärt der Holokratie-Treiber einem First-Mover-Team Modell und Methode. Danach schreibt jedes Teammitglied seine Rollen und Zuständigkeiten auf. Dabei orientiert sich jeder an dem Ist. Das Zeitbudget liegt bei rund einem halben Tag.

4.)  Ausbau und Pflege: Am ersten Governance Meeting sollte der Sinn (Purpose) eines Kreises definiert und die Rollen ausgearbeitet und ergänzt werden. Zum Start ist es empfehlenswert, diese Treffen alle 14-Tage zu veranstalten. Ziel ist es, den Kreis zu etablieren und arbeitsfähig zu machen.  Dieser Prozess kann etwas dauern. Zwei bis drei Arbeitstage pro Teammitglied sollte als Zeitbudget aber reichen, verteilt über zwei bis drei Monaten. In dieser Zeit verändert sich das Rollenschema, manche lösen sich auf, andere kommen hinzu. Mit der Zeit wächst eine lebendige Organisation heran.

5.)  Rückschritte abstellen: Der Auftakt ist gemacht, die Holokratie ist installiert. Allerdings kommt es womöglich zu Rückfällen: die alten Chefs geben Anweisungen oder lehnen Entscheidungen ab. Umgekehrt müssen die nun verantwortlichen Mitarbeiter begreifen, dass zum Recht auch Pflichten gehören. Sie dürfen lernen, Verantwortung zu tragen und Vorbild zu sein. Der Holokratie-Treiber hat die Aufgabe entgegenzusteuern. Er muss Rückschritte erkennen, ansprechen und mit den verantwortlichen Rollen klären.

So funktioniert Holokratie
Die Holokratie schafft Hierarchen nicht wirklich ab, tatsächlich existieren sie als Ordnungsprinzip in der sogenannten Purpose-Hierarchie weiter, jedoch wird Macht vollständig delegiert. Mitarbeiter übernehmen Verantwortung und organisieren sich selbst. Brian Robertson gilt als Pionier der „Holacracy“ (englisch für Holokratie). In der Holokratie übernehmen Mitarbeiter Rollen, die in Kreisen zusammengefasst werden. So kann es einen Produktionskreis geben, in dem Kollegen für Entwicklung, Personalplanung, Beschaffung und Lager zuständig sind. Die Kreise organisieren sich selbst und legen Zuständigkeiten fest, die allerdings immer mit dem übergeordneten Kreis abgestimmt werden müssen. Üblich ist, dass Mitarbeiter mehrere Rollenübernehmen und zu verschiedenen Kreisen gehören. Außerdem kann jeder Mitarbeiter Rollen wechseln oder sich Rollen verändern. Damit die Kreise kommunizieren können, gibt es doppelte Verbindungen. Jeweils ein Vertreter eines Kreises wird in den nächsthöheren gesandt und bildet ein Gegengewicht zum Lead eines Kreises. Holokraten unterscheiden bei Besprechungen zwischen den operativen Treffen, die den Alltag regeln und Steuerungsmeetings. Diese dienen dazu, Strukturen weiterzuentwickeln: Hier werden Zuständigkeiten verteilt, Kreise zusammengelegt und aufgeteilt. Holokratie macht den Chef zwar nicht überflüssig – er wird nur noch bei kritischen Fragen konsultiert. Das soll Freiräume verschaffen, um schneller und effizienter Neues zu entwickeln.

Michael Sudahl ist freier Journlist.

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