Handhabungstechnik
Stark mit nur einem Arm
Manfred Riedl nimmt die Kiste mit Hydraulikverschraubungen und setzt sie auf seinen Arbeitsplatz, um Stichproben-Kontrollen in der Qualitätssicherung durchzuführen. Seine Aufgabe besteht in der Sicherstellung der Maßhaltigkeit der vorgegebenen Gewindetoleranzen. Das Besondere daran – Riedl hat einen Grad der Behinderung von 80. Ein Moped-Unfall hatte Mitte der 70er Jahre seinem Leben eine neue Richtung gegeben. Seit damals ist sein linker Arm vollständig gelähmt. „Ich bin gelernter Maurer“, so der inzwischen 49-jährige, „doch nach dem Unfall war die Arbeit auf dem Bau für mich vorbei.“ Riedl ist nicht der Typ dafür, sich hängen zu lassen. Das zeigt alleine schon sein Hobby – trotz Behinderung machte er seinen Jagdschein, ist heute Jäger aus Leidenschaft. Das Gewehr hält er dabei zielsicher mit seinem rechten Arm. Und auch beruflich gab er nicht auf, sondern fand eine Stelle bei Bell-Hermetic, einem großen Hersteller von Verbindungslösungen für Anwendungen im Hochdruckbereich. Ohne Ausbildung in einem Metallberuf eignete sich Riedl das nötige Wissen selbst an und arbeitet heute in der Fertigungskontrolle.
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Die in Spangenberg bei Kassel ansässige Firma wurde 1955 gegründet. Die hier hergestellten Hydraulikverbindungen finden ihren Einsatz im Maschinenbau, in der Land- und Baumaschinenindustrie – kurz überall, wo Hydraulik zur Steuerung oder Verrichtung von Arbeit eingesetzt wird. Das florierende Unternehmen wechselte 2001 zum französischen Konzern Legris in F-Rennes, Weltmarktführer im Bereich Blitzanschlüsse für den Niederdruckbereich. Bell-Hermetic zählt nun zum Geschäftsbereich Legris Connectic, der Verschraubungen, Schnellkupplungen, Rohre, Kugelhähne und Zubehör herstellt.
Weniger Belastung, höhere Produktivität
„Mit der Übernahme durch Legris hat sich hier einiges geändert“, erinnert sich Günter Lindenborn, Leiter der Fertigungskontrolle. „Der Konzern investierte in den Standort Spangenberg, brachte IT und Fertigung auf den aktuellen Stand.“ So konnten auch in der Produktion Verfahren und Abläufe verbessert werden. „In diesem Rahmen haben wir auch den Arbeitsplatz von Manfred Riedl in Angriff genommen.“ Riedl musste bisher ohne besondere Hilfen auskommen: Zur optischen Kontrolle hielt er das Bauteil in der rechten Hand, hatte dabei aber keine Möglichkeit, die an einem Knickarm befestigte Lupe richtig einzustellen. Musste ein Gewinde nachgeschnitten werden, fixierte er das Schneideisen in einem feststehenden Spannfutter. Dann schraubte er das Bauteil mit der Hand in das Schneideisen und korrigierte so den Gewindeschnitt – eine hohe Belastung für Hand und Arm. Außerdem unterstützten ihn die Kollegen, um die einzelnen Arbeitsaufträge auf den Arbeitsplatz zu hieven
Integration Behinderter ist Unternehmensziel
Eine Verbesserung seines Arbeitsplatzes war also nicht nur ergonomisch, sondern auch betriebswirtschaftlich sinnvoll. „Natürlich hat die Optimierung eines Arbeitsplatzes auch etwas mit Produktivitätssteigerung zu tun“, erläutert Christina Beer, Personalleiterin bei Bell-Hermetic, „doch im Vordergrund stand bei dieser Entscheidung, dass der Mitarbeiter seine Fähigkeiten optimal am Arbeitsplatz einbringen kann. Denn ein wesentliches Ziel, ein wesentlicher Wert in der Unternehmensphilosophie von Legris ist es, Benachteiligten eine Chance zu geben und gleichberechtigt in den Arbeitsmarkt zu integrieren.“ Allerdings waren im Falle Manfred Riedls hierfür Einrichtungen notwendig, die nur zum Teil fertig gekauft werden konnten. „Wesentliche Komponenten des Arbeitsplatzes mussten wir selber konstruieren“, so Lindenborn. Rund 7.000 Euro steckte Bell-Hermetic schließlich an Eigenentwicklung in den Arbeitsplatz. Dazu gehört ein über Fußpedal gesteuertes Drehfutter, das das Schneideisen in Drehbewegung versetzt, oder eine Spannvorrichtung, mit der Riedl das zu bearbeitende Teil für die visuelle Untersuchung fest positionieren kann. Hinzu kamen weitere 23.000 Euro für zugekaufte Geräte.
Förderung vom Integrationsamt
Bei Bell-Hermetic sind inzwischen mehr als sieben Prozent aller Beschäftigten behinderte Menschen. Zum Vergleich: Im bundesweiten Durchschnitt besteht die Belegschaft eines Unternehmens gerade einmal zu rund vier Prozent aus Behinderten. Bell-Hermetic übertrifft damit die im Sozialgesetzbuch festgesetzte Beschäftigungspflichtquote für behinderte Menschen von fünf Prozent deutlich. So standen Günter Lindenborn interessante Fördermöglichkeiten für den Arbeitsplatz von Manfred Riedl zur Verfügung: Denn das zuständige Integrationsamt des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen gewährte für die Schaffung des behindertengerechten Arbeitsplatzes einen Zuschuss in Höhe von 75 Prozent der förderungsfähigen Gesamtkosten. Wichtige Voraussetzung dafür war, dass das Amt von Anfang an in das Projekt miteinbezogen wurde. Es steuerte nicht nur Geld zum Projekt bei, sondern auch Know-how: zum Beispiel konkrete Hinweise für die Arbeitsplatzgestaltung. Das fing an bei dem Not-Aus-Schalter und reichte bis zu einer Liste von Firmen, die für uns interessante Einrichtungen anboten.“ So wurde ein elektrisch höhenverstellbarer Arbeitstisch angeschafft und ein spezieller Drehstuhl, der sich dank einer Arretierung bei dem einarmigen Arbeiten nicht ungewollt wegdreht.
Hebehilfe mit Handkraft steuern
Ein wesentliches Ziel des neuen Arbeitsplatzes für Manfred Riedl war, eine Lösung für das Heben und Tragen der etwa 20 Kilogramm schweren Kisten mit den Werkstücken zu finden. Schließlich wurde man bei Vesa fündig: Das in Wipperfürth im Bergischen Land ansässige Unternehmen spezialisierte sich auf Lösungen für das ergonomische Heben von Lasten. Je nach Anwendung liefert es Manipulatoren, Hubachsen, Seilbalancer oder Schlauchheber. Ausgerüstet mit individuell gefertigten Lastaufnahmen ermöglichen die Handhabungsgeräte das Handling von Bauteilen, Kisten oder anderen Waren ohne Kraftanstrengung und ohne Belastung des Körpers. Zur Produktpalette gehört auch ein Seillift, der mit nur einer Hand bedient werden kann. Kennzeichnende Elemente der Lösung sind die handkraftgesteuerte elektrische Seilwinde und der Knickgelenkausleger mit drei Meter Reichweite. Damit stand ein Standardsystem zur Verfügung, dass genau den Anforderungen von Manfred Riedl und Günter Lindenborn entsprach. „Das Konzept von Vesa hat uns von Anfang an überzeugt“, so Lindenborn. „Durch den Knickausleger kann auch direkt an der Säule des Gerätes eine Last gegriffen werden. Zudem ist die Windeneinheit am Turm montiert, muss also nicht mit dem Ausleger mitbewegt werden. So kann man den Ausleger ganz leicht mit einer Hand führen.“ Zum Greifen der Kiste umfasst Manfred Riedl nur den am Ende des Seils befindlichen Steuergriff; Sensoren setzen die Handkraft in Steuerbefehle um, mit denen die Last gehoben beziehungsweise gesenkt wird. Die Kästen selbst werden mit einer speziell entwickelten pneumatischen Lastaufnahme gegriffen. Auch hier wurde das Prinzip der Bedienung mit nur einer Hand konsequent fortgesetzt. Die Lastaufnahme zentriert sich beim Aufsetzen auf den Kasten selbst und verriegelt automatisch. Das sonst übliche Positionieren der Lastaufnahme mit der zweiten Hand und das Drücken von Knöpfen sind so nicht nötig. Beim Absetzen der Kiste entriegelt der Greifer dann entsprechend wieder automatisch. Beim Heben sorgt die integrierte Lasterkennung dafür, dass der Kasten nicht unabsichtlich entriegelt wird.
Die Kombination von Aufsetzautomatik, Lasterkennung und handkraftgesteuerter Hebehilfe ermöglicht das Heben und Umsetzen der Kästen durchgängig mit nur einer Hand. „Für die individuelle Entwicklung der Lastaufnahme haben wir Vesa nur unsere im Betrieb verwendeten Kästen schicken müssen. Dort wurde dann der Greifer entsprechend konzipiert“, so Lindenborn. Die Arbeit geht Manfred Riedl mit der neuen Einrichtung im wahrsten Sinne des Wortes leicht von der Hand. „Die Bedienung des Handhabungsgerätes benötigt zwar ein wenig Übung, aber nach zwei Tagen hatte ich den Dreh raus“, so Riedl. „Heute kann ich meine Aufgaben ganz anders erledigen; es ist ein ganz anderer Fluss in der Arbeit, weil ich keinen Kollegen mehr um Hilfe bitten muss.“ Olaf Meier (gm)