Zerspanen
Der Kunde als Taktgeber
Matchmaker+
Der fehlende Schraubenschlüssel fällt Wolfgang Meyer sofort ins Auge. Mit den Worten „Der gehört hier nicht hin“ nimmt er ihn von einer Arbeitsplatte des ansonsten picobello aufgeräumten Arbeitsplatzes und bringt ihn am vorgesehenen Platz im Werkzeugboard an. Denn bei dem Sensor- und Messinstrumente-Hersteller Baumer liegen Werkzeuge nicht einfach so rum: die Fertigungslinien und Montageeinrichtungen stehen genau in Linie, die Komponenten und Bauteile befinden sich in Kanban-Kisten, deren Position am Boden exakt aufgezeichnet ist, die Werkzeuge haben ihren festen Platz am Board, wo ein Umriss den richtigen Platz anzeigt.
Diese Ordnungsliebe hat weniger damit zu tun, dass die Baumer Group mit Hauptsitz in Frauenfeld ein Schweizer Unternehmen ist, sondern ist vor allem Resultat der Lean Production Philosophie, die das Unternehmen bereits seit vielen Jahren gezielt vorantreibt.
„Lean Production heißt für uns Vermeidung von Verschwendung“, erklärt Wolfgang Meyer, Werksleiter in Frauenfeld. „Verschwendung von Zeit durch zu lange Wege, überflüssiges Suchen, unnötige Tätigkeiten und störende Dinge am Arbeitsplatz.“ Baumer Operations System (BOS) heißt diese Strategie bei dem Schweizer Hersteller und basiert auf fünf Grundprinzipien:
- Mitarbeitern, Führung und Kommunikation. Meyer: „Unsere Mitarbeiter haben einen sehr hohen Stellenwert im Unternehmen. Wir sehen ihre Qualifikation und ihr Verantwortungsbewusstsein als einen wichtigen Wettbewerbsvorteil..“
- Synchrone Produktion. Meyer: „Der Kunde gibt uns den Takt der Produktion vor. Unser Produktionsvolumen ist mit dem Kundenbedarf synchronisiert. Der Schrittmacherprozess ist unser Dirigent.“
- Qualität. Meyer: „Das hohe Qualitätsniveau in den frühen Stufen unserer Wertschöpfungskette sichert uns die Produktivität, die Flexibilität auf den Kundenbedarf zu reagieren und die langfristige Zufriedenheit unserer Kunden. Unser Null-Fehler-Ziel erreichen wir durch schlanke Prozesse und den Einsatz der Six Sigma Werkzeuge.“
- Standardisierung und Visualisierung. Meyer: „Wir entwickeln und verwenden Standards ohne die notwendige Individualität zur Erfüllung unserer Kundenwünsche einzuschränken. Die Visualisierung hilft uns Prozesse einfach und verständlich zu halten.“
- Business Integration. Meyer: „Mit der Integration aller wesentlichen Geschäftsprozesse in unser Operations System erreichen wir das frühestmögliche Verständnis für die Bedürfnisse unserer Kunden. Unseren Anspruch an lean- und qualitätsgerechte Produktdesigns verankern wir bereits im Entwicklungsprozess.“
Qualität der Zukunft
Die Zielsetzung von BOS ist unter anderem die Etablierung eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses im gesamten Unternehmen sowie die Umsetzung einer schlanken Fliessfertigung in der Produktion. Die initiierten Maßnahmen werden vorangetrieben und in allen Baumer Gesellschaften ausgebaut. Dabei werden die lokal angewendeten Methoden und Werkzeuge vernetzt und zu einem ganzheitlichen System zusammengeführt. Werksleiter Wolfgang Meyer: „Ziel ist es, die jeweils beste im Unternehmen bekannte Lösung in allen Standorten der Baumer Group anzuwenden.“
Ursprung des BOS war das Werk in Frauenfeld, das bereits vor etlichen Jahren als erster Produktionsstandort der Gruppe das Muda-Programm auf Basis der Kaizen-Werkzeuge zur Vermeidung von Verschwendung auf den Weg gebracht hatte. Muda entstammt dem japanischen und bedeutet „Verschwendung“. Die Zielsetzung des Programms war u. a. die Etablierung eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses im gesamten Unternehmen, sowie die Umsetzung einer schlanken Fliessfertigung in der Produktion.
Von den weltweit 2.500 Mitarbeitern der Baumer-Gruppe arbeiten rund 650 in Frauenfeld. In erster Linie werden hier Sensoren zur Objekt- oder Positionserkennung. Die Produktpalette reicht dabei vom induktiven Näherungsschalter bis zum Vision Sensor. Die Losgrößen in der Produktion liegen zwischen eins bis zu mehreren Tausend.
Mit dem Baumer Operations System, einer Mischung aus Lean Production Philosophie und Six Sigma Methoden, wird der mit Muda eingeschlagene Weg weiterentwickelt und verstärkt in allen Bereichen des Unternehmens eingeführt. „Zur Erzielung größtmöglicher Kundennähe“, so erläutert Wolfgang Meyer, „sind in unserem Baumer Operations System nicht nur die Elemente der effektiven Produktion aufgenommen, sondern auch Vertrieb, Entwicklung, Logistik und Beschaffung einbezogen. Denn das wichtigste Ziel ist es, die Kundenerwartungen zu erfüllen oder zu übertreffen. Und die zweite Zielsetzung ist es, Verschwendung zu reduzieren. Deshalb haben wir Lean-Methoden mit Six Sigma kombiniert.“
Six Sigma ist eine statistische Methode des Qualitätsmanagements, um einen möglichst fehlerfreien Prozess zu erreichen. Die Werkzeuge aus dem Six Sigma Baukasten erlauben nicht nur eine Analyse der vergangenen Zeit, aus der die Ergebnisse vorliegen, sondern zeigen auf Basis der Wahrscheinlichkeitsrechnung auch schon die Qualität der Zukunft für den Prozess an. Somit werden Aussagen über zu erwartende Fehler möglich und es kann entsprechend frühzeitig gegengesteuert werden. Meyer: „Mehr und mehr verlangen auch unsere Kunden nach diesen Zahlen. Denn so können sie den Herstellungsprozess, den sie nicht kennen, besser beurteilen und ihm vertrauen. Ein Six Sigma Projekt reduziert also nicht nur die Herstellkosten und steigert die Qualität des Produktes, sondern schafft gleichzeitig auch Kundenvertrauen in unsere Produktionsprozesse.“
Platz mit Smiley
Mit zahlreichen Trainingsmaßnahmen werden die Methoden und Werkzeuge des BOS an die Mitarbeiter vermittelt. „Schulungen werden immer in Verbindung mit Praxisworkshops durchgeführt“, sagt Meyer. „Wir wollen das Erlernte sofort vor Ort umsetzen. Die Implementierung unseres Baumer Operations Systems wird durch erfahrene Mitarbeiter und Führungskräfte sichergestellt. Sie sorgen auch für die Einweisung und Führung der unterstellten Mitarbeiter. Ziel ist die ständige Verbesserung der Prozesse. Wird z.B. ein Sensor mit einer erhöhten Fehleranfälligkeit gefertigt, kann dieser „Missstand“ mit den Six Sigma Methoden durchleuchtet, analysiert und eine Verbesserung oder Lösung gefunden werden.“
Neben qualifizierten Mitarbeitern und Statistikmethoden ist eine wichtige Voraussetzung für das BOS die Nutzung von Standards. Das betrifft zum einen die Produkte, die wenn möglich, zu Familien zusammengefasst werden, um entsprechende Stückzahlen bei der Produktion zu erreichen. „Bei so einem Muda-Projekt schauen wir zunächst, wie groß die Einsparung pro Stück ist und rechnen das aufs Jahr hoch“, beschreibt Wolfgang Meyer das Vorgehen. „Wenn wir durch Vermeidung von Verschwendung dann zum Beispiel zwei Minuten pro Teil in der Herstellung einsparen können, lohnt es sich bei 50 Stück im Jahr nicht, erhebliche Maßnahmen zu ergreifen. Wenn von der Einsparung aber 50.000 Stück im Jahr profitieren, dann sind das erhebliche Summen und da kann man dann auch entsprechend investieren.“
Um Einsparungspotenziale aufzuspüren, gibt es neben regelmäßigen Besprechungen der Mitarbeiter (Meyer: „Nur im Stehen, das ist effektiver und kürzer“) und sogenannten Muda-Listen auch Muda-Teams, die sich quartalsweise größere Ziele vornehmen.
In interdisziplinären Audits unterstützen und verbessern sich die Mitarbeiter und Teams zudem gegenseitig. „Da wird unter anderem darauf geachtet“, so der Werksleiter, „dass das, was vereinbart wurde, auch eingehalten wird.“ In den Audits werden von einem Auditor Punkte vergeben für Ordnung- und Sauberkeit, Einhaltung von Standards und Verbesserungen und Einsparungen. Meyer: „Zielsetzung ist 85 Prozent oder mehr, dafür gibt es einen Smiley, der dann an dem Arbeitsbereich gut sichtbar hängt. Das hat hohen Motivationscharakter.“
Nicht nur die Produkte sind, wo immer möglich, standardisiert, sondern auch die Arbeitsplätze und –mittel. Die Arbeitsplätze bestehen zum Beispiel aus standardisierten Aluminiumprofilen, die in der hauseigenen Muda-Werkstatt so zusammengebaut werden, dass sie möglichst einfach und schnell erweiterbar oder anpassbar sind.
Die Arbeitsstationen sind so aufgebaut, dass unnötige Wege und Bewegungen der Mitarbeiter möglichst vermieden werden. Beispiel: Ein Arbeitsplatz für Leisten, die Sensoren beinhalten und in unterschiedlichen Längen hergestellt werden. An dem Arbeitsplatz sind am Boden verschiedenfarbige Markierungen angebracht, die exakt anzeigen, bei welcher Leiste der Arbeitstisch in welche Position gefahren werden muss. „So muss der Mitarbeiter nicht überlegen, sondern bekommt das gleich narrensicher angezeigt“, erläutert Meyer. „Das sind alles so kleine Methoden, Tools oder Hilfestellungen, die die Rüstzeiten reduzieren – aber in Summen rechnet sich das.“
Deswegen ist auch viel Equipment auf Rädern montiert, wie Wolfgang Meyer erklärt: „Wenn es vom Gewicht her machbar ist, stellen wir die Arbeitsmittel auf Räder, damit möglichst flexibel umgebaut werden kann. Oder spezielles Equipment, das nicht häufig im Einsatz ist, ist mit Rädern ausgerüstet. So kann der Werker die Maschine an die Fertigungsinsel andocken, einstecken, und produziert seinen Sensor. Nach Beendigung des Auftrages wird die Maschine wieder abgedockt und weggefahren. Das hilft alles dabei, die Flexibilität zu steigern und die Verschwendung in den Prozessen zu reduzieren.“
Ein weiteres Beispiel für Vermeidung von Muda findet sich an einem Arbeitsplatz, neben dem ein aufgeräumter Kabelbaum steht. Werksleiter Wolfgang Meyer: „Früher lagen die Kabel alle lose durcheinander in einer Kiste. Die Mitarbeiterin musste sie erst herausziehen und entwirren. Heute hängen sie aufgeräumt an einem Träger, so dass sie die Mitarbeiterin mit einem Griff in dem Arbeitsprozess verarbeiten kann. Früher ging so viel Zeit damit verloren, sie zu entwirren und wieder aufzurollen etc.“
Maximalziel 1:1
Als Ergebnis der Verschwendungsbekämpfung kann Werksleiter Meyer bereits auf erhebliche Erfolge verweisen: „Das wesentliche, was wir erreicht haben, ist die Verringerung der Durchlaufzeiten und Steigerung der Qualität. Wir haben kürzlich ein Projekt realisiert, bei dem wir die Durchlaufzeiten von 20 Tagen auf drei reduziert haben. Damit kommen wir unserem Ziel immer einen kleinen Schritt näher, möglichst 1:1 zu der Auftragslage zu produzieren - das ist das Maximalziel. Denn je geringer die Verschwendung ist, desto synchroner laufen Kundenaufträge und Produktion und desto größer ist die Wertschöpfung und der wirtschaftliche Vorteil.“